Die Mogelpackung der Steuersenker

Gepostet am Mittwoch, den 18. Juni 2008 um 11:39 in Armut/ Grundsicherung,Wirtschafts- und Finanzpolitik

Beitrag von Wolfgang Strengmann-Kuhn in der Financial Times Deutschland vom 05.06.2008

Wer die Armutsfalle überwinden und der Mittelschicht helfen will, der darf nicht bei der Einkommensbesteuerung ansetzen

Armut und die Angst vor der Armut sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen, die Mittelschicht schrumpft. Dieses Ergebnis mehrerer Studien hat die Politik zu Recht alarmiert. Nun überbieten sich die Parteien mit Vorschlägen zur Entlastung der Mittelschicht und zur Bekämpfung der Armut. Am lautesten verbreitet die CSU den von der FDP abgekupferten Slogan „mehr netto vom brutto“. Doch dieser Ansatz hält nicht, was er verspricht. Er geht nicht nur an wesentlichen Problemen vorbei, sondern würde diese sogar noch verschärfen.

Die deutsche Steuerquote ist heute eine der niedrigsten in Europa. Das hat dazu geführt, dass Sozialleistungen nicht im notwendigen Maße verbessert wurden. Auch für die öffentliche Infrastruktur ist das Geld knapper geworden. Die Höhe der Sozialhilfe und seit 2005 des Arbeitslosengeldes II sind seit Jahren konstant. Das Niveau ist also preisbereinigt gesunken. Gleiches gilt für das Kindergeld, das seit 2001 bei 154 Euro liegt. Dem Armuts- und Reichtumsbericht der Regierung ist zu entnehmen (wenn auch nur versteckt in einer Tabelle im Anhang), dass der armutssenkende Effekt der Sozialtransfers von 2001 bis 2006 deutlich gesunken ist.

Zu mehr Ehrlichkeit in der Steuerdebatte gehört, dass konsequent unterschieden wird zwischen den Grenzsteuersätzen und dem real gezahlten durchschnittlichen Steuersatz. Dann zeigt sich schnell, dass die Steuerbelastung gar nicht so hoch ist, wie oft behauptet. Laut einer aktuellen DIW-Studie hatten selbst absolute Spitzenverdiener, also diejenigen, die zu den 10 Prozent mit den höchsten Einkommen gehören, 2002 nur eine durchschnittliche Steuerbelastung von nicht mehr als 32 Prozent. Für jene, deren Einkommen etwas darunter lag, betrug die durchschnittliche Belastung sogar nur 20 Prozent. Die unteren Einkommensgruppen zahlen fast gar keine Steuern. Der Eingangssteuersatz von 15 Prozent gilt erst für jeden zusätzlichen Euro, der über dem Grundfreibetrag von 7660 Euro im Jahr liegt.

Hinzu kommt, dass ein niedrigerer Einkommenssteuersatz nicht nur Geringverdiener entlastet, sondern alle. Jene, deren Schultern breiter sind, haben also durch die Senkung von Spitzen- und Eingangssteuersatz doppelt profitiert. Der Slogan „mehr Netto vom Brutto für alle“, der auf niedrigere Einkommensteuern zielt, ist eine Mogelpackung. Richtig ist jedoch, dass Geringverdiener und die Mittelschicht besonders hoch belastet sind. Verantwortlich dafür ist die Finanzierung der Sozialversicherungen. Hier gibt es weder einen Freibetrag, noch steigen die Beiträge progressiv an. Im Gegenteil: Durch die Beitragsbemessungsgrenzen tragen die Einkommensstärksten relativ zu ihrem Einkommen am wenigsten bei. Vermögenseinkommen werden gar nicht herangezogen.

Alternative Bürgergeld

Wer die unteren und mittleren Einkommen entlasten will, der muss hier ansetzen. Durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, eine Einbeziehung der Vermögenseinkommen, eine Abschaffung der Beitragsbemessungsgrenze, zumindest bei der Kranken- und Pflegeversicherung, und die Einbeziehung aller Bürger könnten die Sozialversicherungsbeiträge erheblich sinken. Alternativ zu solch einer Bürgerversicherung wäre eine stärkere Steuerfinanzierung denkbar, die einen ähnlichen Effekt hätte.

Pläne, die auf eine geringere Belastung von Geringverdienern mit Sozialversicherungsabgaben zielen, wie etwa die der SPD, die Einführung eines Freibetrages oder das Grüne Progressivmodell, gehen in die richtige Richtung. Sie reichen aber nicht. Am wirkungsvollsten wäre Einkommensarmut durch eine negative Einkommensteuer in Form eines Grundeinkommens oder eines Bürgergelds zu bekämpfen.

Damit würden zunächst alle gleichmäßig entlastet, hohe Einkommen dann aber durch höhere Steuer- und Sozialabgaben belastet. Für mittlere Einkommen bliebe die Belastung fast gleich. Geringe Einkommen, deren Steuerlast geringer ist als das Bürgergeld, bekämen die Differenz als „negative Einkommensteuer“ ausgezahlt. Der Ausstieg aus der Armutsfalle wäre so möglich.