Interview: „Datenmix verzerrt das Bild“
Das Kabinett will heute den dritten Reichtums- und Armutsbericht verabschieden. Nachdem die erste Fassung von Arbeitsminister Olaf Scholz (SPD) sehr umstritten war, überarbeitete er ihn. Experten hatten ihm vorgeworfen, mit Zahlen aus einer weniger renommierten Studie die Situation in Deutschland verharmlosen zu wollen, um anschließend Maßnahmen aus seinem eigenen Haus rühmen zu können. Dem Grünen-Abgeordneten und Sozialpolitik-Experten Wolfgang Strengmann-Kuhn ist der überarbeitete Bericht immer noch zu unseriös, sagt er im Interview mit tagesschau.de.
tagesschau.de: Warum halten Sie den Armutsbericht für so problematisch?
Wolfgang Strengmann-Kuhn: Er suggeriert, dass die Armutsquote in den vergangenen Jahren konstant geblieben ist – wenn nicht sogar gesunken. Das ist schlicht falsch. Laut dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) ist die Armutsquote von 1998 bis 2005 um 50 Prozent gestiegen, von 12 auf 18 Prozent Bevölkerungsanteil. Das sind vier Millionen Arme mehr.
tagesschau.de: Der Datenerhebung EU-SILC zufolge, die ebenfalls in dem Bericht angewendet wird, ist die Armutsquote im selben Zeitraum aber lediglich von 12 auf 13 Prozent gestiegen.
Strengmann-Kuhn: EU-SILC ist zu neu und deshalb methodisch noch zu mangelhaft, um repräsentativ zu sein. Das ist normal, wenn man neue Datenerhebungen einführt. Es gibt immer sozusagen statistische Kinderkrankheiten, die sich nach ein paar Jahren lösen. EU-SILC wurde erst zweimal angewendet. Es unterschätzt bestimmte Armutsgruppen, vor allem Kinderarmut und die Armut von Erwerbstätigen.
tagesschau.de: Woran liegt das?
Strengmann-Kuhn: EU-SILC ist eine rein schriftliche Befragung, es gibt keine Interviews. Bei der Auswahl der Haushalte gibt es ein Problem, weil es keine rein zufällige Stichprobe ist: Zu drei Vierteln werden die Fragebögen an Leute verschickt, die sich freiwillig gemeldet haben. Das letzte Viertel der Befragten ist zwar eine Zufallsstichprobe, aber eben auch eine Gruppe von Freiwilligen. Das führt dazu, dass weniger gebildete Familien ebenso wenig repräsentativ erfasst sind wie Haushalte mit kleinen Kindern und erwerbstätige Haushalte mit geringer Bildung und kleinen Kindern. Die Studie liefert deshalb keinen Querschnitt. Das habe ich auch in einem Gutachten im Auftrag des Arbeitsministeriums dargestellt.
„Überrascht, dass Scholz sich auf diese Daten stützt“
tagesschau.de: Wie hat man darauf reagiert?
Strengmann-Kuhn: Es gab eine starke interne Diskussion. Das Statistische Bundesamt hat meine Ergebnisse bestätigt. Damals war schon klar, dass das brisante Ergebnisse sein könnten. Ich bin deshalb überrascht, dass Bundesminister Scholz sich in seinem Bericht so stark ausgerechnet auf diese Daten stützt.
tagesschau.de: Mit der Begründung, EU-SILC ermögliche den direkten Vergleich mit anderen europäischen Ländern.
Strengmann-Kuhn: Das stimmt nicht. Das Verfahren in Deutschland ist ziemlich einmalig. Ausschließlich schriftliche Befragungen kamen in keinem anderen Land vor. In anderen Staaten gibt es entweder eine Zufallsauswahl der befragten Haushalte, oder man greift auf Daten der Behörden zurück, wie in den nordischen Ländern, wo das teilweise rechtlich möglich ist. Wenn es nun also heißt, im europäischen Vergleich stünden wir gut da, ist das eine zweifelhafte Aussage.
Außerdem verlässt sich der Minister an anderen Stellen wiederum nicht darauf: EU-SILC verzeichnet zum Beispiel einen vergleichsweise hohen Wert für Altersarmut. Da verweist Herr Scholz dann auf das sozioökonomische Panel. Er mischt die Daten bei seinem Bericht methodisch so, wie es ihm am besten passt – um keine Angriffsfläche zu bieten.
Zuverlässige Zahlen sind drin – aber versteckt
tagesschau.de: Wie aussagekräftig ist dieser Armutsbericht dann Ihrer Meinung nach überhaupt?
Strengmann-Kuhn: Die Zahlen, die ich für zuverlässig halte, sind ja drin. Sie sind eben nur etwas versteckter. Es gibt durchaus Teile, die vernünftig gestaltet sind. Aber es ist halt ein Patchwork, das kein vernünftiges Bild abgibt. Das war in den beiden ersten Armutsberichten anders.
tagesschau.de: Die beide auch unter Beteiligung Ihrer grünen Partei entstanden sind, nämlich 2001 und 2005. Aber unumstritten waren auch diese Berichte nicht.
Strengmann-Kuhn: Natürlich versucht jede Regierung, die positiven Aspekte hervorzuheben und die eigene Politik als gut darzustellen – aber in den beiden ersten Armutsberichten waren zumindest die Zahlen sauber.
tagesschau.de: Was ist denn dann der Nutzen solcher Berichte, wenn derart unterschiedliche Zahlen darin vorkommen?
Strengmann-Kuhn: Ein Armutsbericht ist unbedingt nötig – man muss nur vernünftig und transparent mit den Daten umgehen. Minister Scholz hat ja auch innerhalb der Koalition viel Kritik einstecken müssen. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU) hat wenige Zeit nach ihm Zahlen über Kinderarmut vorgelegt, die deutlich über seinen lagen.
tagesschau.de: CDU-Frau von der Leyen blickt aber womöglich genauso wie SPD-Mann Scholz auf den nahenden Wahlkampf?
Strengmann-Kuhn: Man kann schon wissenschaftlich belegen, welche Datensätze besser sind als andere. Es muss eine Zufallsstichprobe sein, die repräsentativ für die Bevölkerung sein. Das Einkommen muss gut gemessen werden können und mit unterschiedlichen Komponenten. Und die Verfahren müssen ausgereift sein.
Derzeitige Maßnahmen greifen zu kurz
tagesschau.de: Ein Armutsbericht soll nicht nur eine Bestandsaufnahme sein, sondern auch eine Arbeitsgrundlage, also in die Zukunft gerichtet. Wirkt der Bericht auf Sie, als wolle man im Arbeitsministerium nun die Hände in den Schoß legen?
Strengmann-Kuhn: Nein. Aber wenn man sich die Strukturen ansieht, muss man feststellen, dass sich viel verändert hat: Die Verdopplung der Armutsquote bei Erwerbstätigen zum Beispiel. Es gibt vier Millionen Menschen, die arm sind – trotz Arbeit. Das sind doppelt so viele wie arme Arbeitslose. Das wird von der Politik ignoriert. Ihr geht es eher darum, Menschen wieder in Arbeit zu bringen, statt Arbeit so zu entlohnen, dass man von ihr leben kann. Das greift zu kurz.
Das Interview führte Nicole Diekmann, tagesschau.de.