Rede zur Rente ab 67

Gepostet am Dienstag, den 27. Juli 2010 um 16:05 in Alterssicherung,Armut/ Grundsicherung,Rente mit 67

Zur Großen Anfrage der Fraktion DIE LINKE „Beschäftigungssituation Älterer, ihre wirtschaftliche und soziale Lage und die Rente ab 67“ redete Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Grüne Bundestagsfraktion vor dem Plenum am 9.7.2010

Ein Zurück zum Sozialstaat der 1980er Jahre kann es nicht geben. Deswegen sind die im Antrag formulierten Vorstellungen der LINKEN nicht zukunftsfähig.  Weder die Rente mit 65 noch die Rente mit 67 für alle kann den gesellschaftlichen Veränderungen gerecht werden. Die Alterung verläuft individuell sehr unterschiedlich. Manche können mit 60 nicht mehr arbeiten, manche können und wollen aber auch noch mit 75 oder älter arbeiten. Diesen individuellen Unterschieden muss ein Alterssicherungssystem gerecht werden. Das ist eine ganz wichtige Voraussetzung für eine generelle Verlängerung der Lebensarbeitszeit.
Wir wollen deswegen flexible Übergänge in den Ruhestand schaffen, über die die Menschen möglichst selbstbestimmt entscheiden können.

Die Rede als Videostream:

Die protokollierte Rede als Reintext:

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Ernst, Ihre Rede hat einmal mehr deutlich gemacht, wo der Unterschied zwischen Ihnen und uns
Grünen liegt: Während Sie rückwärtsgewandt und sozialstaatskonservativ zu einem Sozialstaat der Vergangenheit zurückwollen, sind wir der Zukunft zugewandt

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hey! Den Text kenne ich doch irgendwoher!)

und wollen den Sozialstaat reformieren.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Wir alle leben im Durchschnitt immer länger und leben auch immer länger gesünder. Das ist auch gut so. Nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die längere Lebenserwartung führt – neben der gesunkenen Geburtenquote – dazu, dass der Anteil der Alten
in der Gesellschaft steigt. Wir stellen uns dieser Herausforderung, während die Linke zurück zum Sozialstaat der 1980er-Jahre will. Die Linke ist die Partei der Vergangenheit – die Grünen sind die Partei der Zukunft!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiterkeit bei der LINKEN)

Gleichzeitig sind die Grünen auch die Partei der ökonomischen Vernunft. Wir wissen nämlich, dass eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit gleich zwei gute Wirkungen für die Rentenversicherung hat: Auf der einen Seite werden länger Beiträge gezahlt und die Einnahmen der Rentenversicherung gesteigert. Auf der anderen Seite ist eine längere Lebensarbeitszeit gut für die Ausgabenseite, weil weniger lang Renten gezahlt werden.
Aufgrund dieser doppelten Wirkung ist eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit besonders effektiv und eine
ganz wichtige Stellgröße für die Finanzierung der Rentenversicherung in der Zukunft. Auch das sollten Sie,
Herr Ernst, endlich einmal zur Kenntnis nehmen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])
Und was volkswirtschaftlich gilt, gilt auch für jeden Einzelnen und jede Einzelne. Je länger gearbeitet wird, desto höher sind die Renten.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Haben Sie die Antwort der Bundesregierung gelesen, oder erzählen Sie jetzt Allgemeinplätze?)
– Ich habe ja noch ein paar Minuten.
Ich habe gerade über den Durchschnitt geredet, wir wissen aber auch, dass nicht jede Person bis zu einem
Alter von 67 oder auch nur 65 Jahren arbeiten kann – das beträfe also auch die Rente mit 65, die Sie ja wollen.
(Klaus Ernst [DIE LINKE]: 90 Prozent!)
Häufig haben gerade diejenigen, die früher in Rente gehen, eine geringere Lebenserwartung. Das sollte auf der
rechten Seite des Plenums einmal zur Kenntnis genommen werden. Von diesen Personen mit einer kürzeren
Lebenserwartung, die früher in Rente gehen müssen, zu verlangen, dass sie bis 67 arbeiten, wäre in der Tat zynisch.
Die Alterung verläuft individuell sehr unterschiedlich. Manche können mit 60 nicht mehr arbeiten, manche
können und wollen aber auch noch mit 75 oder älter arbeiten. Johannes Heesters arbeitet sogar noch mit über 100.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Und sehr erfolgreich!)
Diesen individuellen Unterschieden muss ein Alterssicherungssystem gerecht werden. Das ist für uns eine
ganz wichtige Voraussetzung für eine generelle Verlängerung der Lebensarbeitszeit.
Wir wollen deswegen flexible Übergänge in den Ruhestand schaffen, über die die Menschen möglichst selbstbestimmt entscheiden können, Herr Kolb.
(Zurufe von der FDP: Jawohl!)
Denn wir Grünen sind nicht nur die Partei der Zukunft und der ökonomischen Vernunft, sondern wir sind auch die Partei der Freiheit und Selbstbestimmung.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der FDP)
Aber im Gegensatz zur FDP wollen wir nicht nur Freiheit und Selbstbestimmung für die Besserverdienenden
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Nein!)
– Sie haben eben in Ihrer Rede schon wieder eine Gruppe ausgeschlossen. Wir dagegen wollen das tatsächlich allen ermöglichen.
(Zuruf von der FDP: Das ist das Niveau von Herrn Ernst!)
Ich bin deswegen der Meinung, dass wir von einem starren Renteneintrittsalter wegkommen sollten. Warum
sollten die Menschen nicht in der Tat selbst entscheiden, wann sie in Rente gehen, ob sie ihre Rente nur teilweise in Anspruch nehmen, ob sie ihre Arbeitszeit sofort ganz reduzieren oder in Stufen?
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gelb wirkt!)

Diese Entscheidung sollten wir den Menschen schon früher als mit 67 Jahren ermöglichen.
Wir sollten es den Menschen aber gleichzeitig auch ermöglichen – und daran fehlt es im Moment noch –,
länger zu arbeiten, und zwar jedem nach seinen Bedürfnissen und jedem nach seinen Fähigkeiten.
(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Jedem nach seinem Geldbeutel!)

Wir wollen es den Menschen ermöglichen, früher – zumindest teilweise – in Rente zu gehen. Gleichzeitig muss
es sich auch lohnen, länger zu arbeiten.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wie ist das mit den Zusatzverdiensten?)
Die skandinavischen Länder haben mit dieser Kombination gute Erfahrungen gemacht – Herr Kolb hat eben schon darauf hingewiesen,
(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
auch wenn die skandinavischen Länder sonst nicht gerade Ihr Vorbild sind; das muss man auch sagen. Dort gibt es jedenfalls die Möglichkeit, früher in Rente zu gehen.
(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das kommt darauf an, welche Zeitphase Sie betrachten!)

– Stellen Sie eine Zwischenfrage, und reden Sie nicht andauernd dazwischen!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wir unterstützen Sie doch! – Zuruf von der FDP: Wir sind begeistert!)
In Schweden gibt es die Möglichkeit, früher in Rente zu gehen. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit, länger zu
arbeiten. Im Durchschnitt arbeiten die Schweden länger. Länger, aber weniger arbeiten wäre also das Motto.
Für uns ist eine stärkere Flexibilisierung des Renteneintritts eine wichtige Voraussetzung für eine generelle Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Von der Bundesregierung haben wir dazu bisher noch nichts gehört. Auch von Ihnen von der FDP habe ich in letzter Zeit keinen Antrag dazu gesehen. Bringen Sie doch einen entsprechenden Antrag ein, dann können wir konstruktiv darüber diskutieren.

Für uns ist aber auch wichtig – das unterscheidet uns von der FDP –, dass diejenigen, die früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden, nicht dafür mit einem höheren Armutsrisiko bestraft werden. Wir wollen deshalb eine garantierte Mindestrente – wir nennen das Garantierente – für das Alter, die den Grundbedarf deckt. Wer mehr als 30 Jahre versichert war, muss sich darauf verlassen können, dass er eine Rente erhält, die über dem Grundsicherungsniveau liegt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Mehr als 30 Jahre?)

Auch diesbezüglich gibt es von der Regierung nichts außer einem sehr kryptischen Satz in der Koalitionsvereinbarung. Im Gegenteil: Mit ihrem dreisten Griff in die Rentenkasse durch das sogenannte Sparpaket wird die Altersarmut ansteigen. Es handelt sich um über 2 Milliarden Euro. Frau Ferner hat das eben schon angedeutet. Das hat mit Sparen überhaupt nichts zu tun, weil die Ausgaben der Rentenversicherung sogar noch steigen werden und die Ausgaben der Kommunen für die Grundsicherung ebenfalls. Das heißt, bezahlen müssen es die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler und die Kommunen. Das Ganze nennen Sie Sparen. Für uns sieht Sparen anders aus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Herr Strengmann-Kuhn, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Fricke zulassen?
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ja.
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt:
Bitte schön.
Otto Fricke (FDP): Herr Kollege, Sie haben darum gebeten, nachzufragen, wenn man etwas, was Sie gesagt haben, nicht nachvollziehen kann oder nicht verstanden hat. Ich möchte, dass Sie mir etwas erklären. Jemand, der 30 Jahre gearbeitet hat, soll nach Ihrem Modell einen Anspruch auf eine Grundrente haben? Habe ich das richtig verstanden?
Das heißt, jemand, der mit 16 Jahren angefangen hat, in die Rentenkasse einzuzahlen, hat mit 46 Jahren einen
Anspruch auf die Grundrente. Ist es das, was Sie erklären wollen, oder was macht der Betreffende zwischen 46 und dem Renteneintrittsalter?
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir sind nicht für die Rente mit 46, um das klar zu sagen.
(Otto Fricke [FDP]: Sie sprachen doch von 30 Jahren!)
Unsere Vorstellung ist, dass jemand ab 60 eine Teilrente beziehen kann. In Schweden gibt es eine Garantierente ab 65, also ab dem üblichen Renteneintrittsalter. Wir wollen einen Einstieg für die langjährig Versicherten schaffen. Wir wollen denjenigen, die 30 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben, ein Minimum garantieren.
Ich möchte einen Satz im Koalitionsvertrag anführen, weil er so schön ist:
Deshalb wollen wir, dass sich die private und betriebliche Altersvorsorge auch für Geringverdiener lohnt und auch diejenigen, die ein Leben lang Vollzeit gearbeitet und vorgesorgt haben, ein Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherung erhalten, das bedarfsabhängig und steuerfinanziert ist.

Alles klar? Warum ist das Ganze so merkwürdig formuliert?
Weil sich auch hier Union und FDP wieder nicht einig sind, weil sie unterschiedliche Konzepte haben.
Herr Kolb hat das eben angedeutet. Von der CDU/CSU kommt vielleicht nachher noch eine Aussage zur Altersarmut.
Was ist die Lösung? Sie bilden wieder einmal eine Kommission, die angeblich 2012 Ergebnisse vorlegen
soll. Mehr ist über dieses Geheimgremium bisher nicht zu erfahren. Wir haben eine Kleine Anfrage gestellt.
Es wurde nicht geantwortet, wann mit Ergebnissen zu rechnen ist, wie die Kommission zusammengesetzt
ist, und es ist nicht zu erfahren, wie der merkwürdige Satz, den ich eben vorgelesen habe, zu interpretieren ist
und welche Vorschläge im Einzelnen von dieser Kommission behandelt werden sollen. Also gibt es wieder
einmal, wie wir es von dieser Regierung kennen, nichts als heiße Luft und leere Ankündigungen. Kosten soll das Ganze auch nichts – das habe ich einem Bericht der Passauer Neuen Presse entnommen; die weiß offensichtlich mehr als wir –, weder zusätzliche Beitragsmittel noch Steuermittel. Sie müssen mir einmal erklären, wie Sie damit eine armutsfeste Rente finanzieren wollen.
Wir Grünen wollen, dass die Rente mit 67 keine Rentenkürzung durch die Hintertür wird. Das wollen wir verhindern.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ist sie doch schon längst!)
Deswegen wollen wir sicherstellen – das ist der entscheidende Punkt –, dass diejenigen, die länger arbeiten wollen, dies auch können. Wenn das nicht der Fall ist, dann wäre es in der Tat eine Rentenkürzung durch die Hintertür. Wir haben aber noch etwas Zeit. Die stufenweise Einführung fängt erst im Jahr 2012 an. Die Rente mit 67 gilt für meinen Jahrgang erst im Jahr 2029.
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wann waren Sie das letzte Mal in einem Schichtbetrieb?)
– Hören Sie mir doch einmal zu! –
(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Machen wir!)
– Gut, wunderbar. – Wir müssen sicherstellen, dass diejenigen, die länger arbeiten wollen, dies auch können.
Das ist eine Frage der Gesundheit und der Arbeitsbedingungen. Deswegen brauchen wir insbesondere eine Gesundheitspolitik, die mehr auf Prävention setzt, damit wir nicht nur länger leben, sondern auch länger gesund bleiben. Wir brauchen Arbeitsplätze, die die Menschen nicht kaputtmachen. Wir brauchen gute Arbeit und nicht Arbeit um jeden Preis.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist richtig!)
– Das ist richtig, aber dazu hätte ich gerne einige Vorschläge von Ihnen. –
Außerdem gehören dazu sowohl alters- als auch alternsgerechte Arbeitsplätze, also Arbeitsplätze, die dadurch gekennzeichnet sind, dass sich die Arbeitsbedingungen und die Arbeitszeit dem zunehmenden Alter der Beschäftigten anpassen. Hier sind vor allem die Arbeitgeber in der Pflicht. Der Jugendwahn, der in vielen Unternehmen immer noch vorherrscht, muss endlich beendet werden.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist auch richtig!)
Diejenigen, die arbeiten können und wollen, müssen auch einen Arbeitsplatz finden. Wichtig ist also die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Wie die Antwort auf die Große Anfrage zeigt, gibt es hier durchaus Fortschritte: Der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an der Gruppe der 60- bis 65-Jährigen hat sich von 2000 bis 2008 immerhin verdoppelt, nämlich von 10,7 Prozent auf 21,5 Prozent. Das ist nicht allzu viel: Nur ein Fünftel der 60- bis 65-Jährigen hat eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Bei den 64-Jährigen sind es gerade einmal – Herr Ernst hat schon darauf hingewiesen – 10 Prozent, die sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Auch das ist kein großer Fortschritt.
Wenn Erwerbstätige und Arbeitslose zusammengezählt werden, sieht man, dass es zwar Fortschritte gibt
– die Erwerbsquote der 60- bis 64-Jährigen ist von 21,5 Prozent auf 37,8 Prozent gestiegen; auch das ist immerhin fast eine Verdoppelung –, aber selbst bei den Männern lag die Erwerbsquote immer noch unter
50 Prozent. Das Glas ist also vielleicht gerade einmal halb voll.

Es ist noch einiges zu tun, und die Zeit bis 2012 wird in der Tat langsam knapp. Wir Grünen wollen längeres
Arbeiten und einen flexibleren Übergang in den Renteneintritt ermöglichen – im Interesse der Menschen und im Interesse der Rentenversicherung. Wir wollen deswegen keine Rückkehr zur Rente mit 65. Eine bedingungslose Zustimmung zur Anhebung der Altersgrenze ab 2012 wird es mit uns aber auch nicht geben. In diesem Sinne sind wir gespannt auf den Bericht der Bundesregierung im November. Wir werden ihn genau prüfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.