Rede zur Rente mit 67 am 1.10.2010: Voraussetzungen schaffen statt abschaffen!
Beratung des Antrags DIE LINKE. „Rente ab 67 vollständig zurücknehmen“ vom 01.10.2010 (63. Sitzung, TOP 26)
Redebeitrag von Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (B90/GRÜNE)
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN):
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben kurz vor der Sommerpause eine Debatte über die Rente mit 67 geführt. Jetzt führen wir schon wieder eine darüber. Teilweise haben wir die gleichen Reden gehört, zum Beispiel von Herrn Ernst, Herrn Weiß und Herrn Kolb.
(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Ihre Rede wird auch nicht anders werden!)
Ich könnte jetzt auch einfach die gleiche Rede halten, aber ich will anders anfangen und an einem Tag wie heute etwas Grundsätzliches und Nachdenkliches sagen.
Als Politiker müssen wir, glaube ich, insgesamt aufpassen, dass wir nicht über die Köpfe der Menschen hinweg und jenseits der Realitäten regieren. Vor diesem Hintergrund fand ich die Rede des Herrn Juratovic sehr hilfreich. Ich hätte mich gefreut, wenn Sie auf der rechten Seite des Hauses etwas besser zugehört hätten und nicht so viel und so laut gequatscht hätten.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Max Straubinger [CDU/CSU]: Es wäre auch gut, Sie würden bei uns zuhören!)
Es passieren zurzeit mehrere Dinge: In Stuttgart wird ein Projekt mit brutaler Gewalt gegen den Willen eines großen Teils der Bevölkerung vor Ort durchgesetzt. Heute Morgen haben wir über die Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke diskutiert, die die Bundesregierung gegen den Willen der Mehrheit der Menschen durchsetzen will.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das ist im Sinne der Arbeitsplätze in unserem Land, die wichtig sind für die Rente!)
Ebenso ist die Mehrheit der Bevölkerung gegen die Rente mit 67.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 93 Prozent!)
– Ja.
Wir Grünen halten die Rente mit 67, um das klar zu sagen, grundsätzlich für die richtige Perspektive.
(Max Straubinger [CDU/CSU]: Aha!)
Ich erkläre gleich, warum. Wir dürfen aber nicht den Fehler machen, anzunehmen, die Ablehnung der Bevölkerung komme daher, dass die Menschen zu dumm seien und das nicht verstehen würden. Häufig sind die Menschen durchaus klüger, als wir Politikerinnen und Politiker glauben.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)
Die Frage: „Rente mit 67? Ja oder nein?“, die die Linke häufig stellt, greift zu kurz. Wenn die Mehrheit gegen die Rente mit 67 ist, stecken dahinter mehrere durchaus reale Sorgen der Menschen. Die Menschen haben Angst, dass die Rente mit 67 dazu führt, dass sie keine existenzsichernde Rente mehr erhalten. Sie haben Angst, dass sie erwerbsunfähig werden und höhere Abschläge als heute in Kauf nehmen müssen. Sie haben Angst, dass sie nicht bis 67 arbeiten können und ihre Rente entsprechend gekürzt wird. An diesen Punkten müssen wir ansetzen. Ich kann Ihnen versichern: Wir Grüne nehmen die Sorgen der Menschen sehr ernst und werden Vorschläge dazu unterbreiten. Bald, wenn wir wieder regieren, werden wir uns darum kümmern, dass es Lösungen gibt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich habe es schon gesagt: Wir Grüne halten die Rente mit 67 nach wie vor für die richtige Perspektive. Wenn die Menschen länger arbeiten, sind die Beiträge niedriger und die Renten höher, Herr Ernst, sodass letztlich alle davon profitieren können. Es profitieren alle von diesem größeren Kuchen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Wichtiger Hinweis!)
Wenn die Menschen allerdings nicht länger arbeiten können, dann handelt es sich tatsächlich um eine Rentenkürzung, und das gilt es, zu verhindern. Wenn man sich die Zahlen anschaut – Sie haben ein paar genannt -, muss man sagen: Die Voraussetzungen sind jetzt noch nicht gegeben.
(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])
Man muss aber betonen, dass es, wenn wir über die Rente mit 67 sprechen, nicht um diejenigen geht, die in den Jahren 2010, 2011 oder 2012 in Rente gehen, sondern es geht um die Rente mit 66 ab dem Jahr 2024 und um die Rente mit 67 für meinen Jahrgang und später, also ab 2031. Bis dahin ist durchaus noch Zeit.
Ich erwarte, dass in dem Bericht, den uns die Bundesregierung Ende November vorlegen wird, nicht nur die aktuellen Zahlen enthalten sind, Herr Fuchtel, sondern auch Prognosen bezüglich der Entwicklung des Arbeitsmarktes für Ältere; denn das ist eine wichtige Entscheidungsgrundlage. Außerdem erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie in diesem Bericht ausführt, wie sie es erreichen will, dass die Menschen länger arbeiten, wie sie bessere Möglichkeiten schaffen will, dass die Menschen früher in Rente gehen können, wenn sie nicht so lange arbeiten können, und wie die Bundesregierung Armut im Alter verhindern will. Dazu gibt es bisher relativ wenige Vorschläge.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Anton Schaaf [SPD]: Gar nichts gibt es da!)
Wir Grüne wollen verhindern, dass die Rente mit 67 eine Rentenkürzung durch die Hintertür wird. Wir Grüne wollen für diejenigen, die nicht so lange arbeiten können, Möglichkeiten schaffen, früher in Rente zu gehen. Last but not least, wir Grünen wollen den Menschen die Angst vor der Altersarmut nehmen.
Die Voraussetzungen für die Rente mit 67 im Jahre 2031 müssen jetzt geschaffen werden; denn die Arbeitsbedingungen von heute bestimmen, ob die Menschen in der Zukunft tatsächlich länger arbeiten können.
Was tut die Bundesregierung dafür? Nichts. Wo bleibt denn die Weiterbildungsoffensive für die Älteren? Wo bleibt das Erwachsenen-BAföG, damit sich auch Ältere weiterbilden und ein Studium aufnehmen können? Wo bleibt die Kampagne für eine Kultur der Altersarbeit? Wo sind denn die Arbeitsmarktmaßnahmen, die zunehmend insbesondere auf die Älteren zugeschnitten sind?
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die werden gerade gekürzt!)
– Genau; Herr Kurth sagt gerade: Die werden im nächsten Jahr gekürzt.
Was unternimmt denn die Bundesregierung, damit die Unternehmen mehr alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze schaffen?
(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Können Sie sich vorstellen, das die Unternehmen ein Eigeninteresse daran haben?)
Damit die Menschen länger arbeiten können, ist es aber nicht nur notwendig, dass die Arbeitsbedingungen der Älteren verbessert werden, sondern wir brauchen insgesamt Arbeitsbedingungen – das hat Herr Kollege Juratovic schon gesagt -, die nicht krank machen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Weiß?
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN):
Gerne.
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt:
Bitte.
Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU):
Herr Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben zu Recht die Frage gestellt: Was tut die Bundesregierung, was tun wir insgesamt politisch dafür, dass ältere Menschen länger arbeiten können und dabei auch gesund bleiben? Deswegen möchte ich Sie fragen: Ist Ihnen bekannt, dass wir mit dem Gesetz zur Anhebung der Regelaltersgrenze auch die Initiative „50 plus“ beschlossen und gestartet haben, dass wir im Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales nicht gekürzt, sondern mit einem beachtlichen Ansatz die Initiative „Neue Qualität der Arbeit“ mit vielen Unternehmen starten, die große Fortschritte bei der Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gemacht haben, dass wir aus diesem Programm neue Projekte in den Bereichen Arbeitsschutz, Gesundheitsprävention und Arbeitsorganisation fördern, mit denen erkennbar mehr getan werden kann als heute, damit ältere Menschen eine Beschäftigungschance haben und tatsächlich länger arbeiten können, und dass viele der Unternehmen, die sich daran beteiligen – leider beteiligen sich nicht alle daran -, zum Beispiel bei Wettbewerben wie „Deutschlands beste Arbeitgeber“ dafür ausgezeichnet worden sind, dass sie modellhaft etwas tun? Würden Sie also freundlicherweise zur Kenntnis nehmen, dass seitens der Bundesregierung und aus dem Bundeshaushalt eine kräftige Förderung entsprechender Projekte erfolgt, die modellhaft zeigen, dass man etwas tun kann, wenn man will?
(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir brauchen keine Modellprojekte, wir brauchen Strategien!)
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN):
Es ist schön, dass es da kleinere Modellprojekte gibt. Die Aktion „50 plus“ hat ja auch bewirkt, dass die Erwerbsbeteiligung der über 55-Jährigen insgesamt gestiegen ist. Aber wir haben die Zahlen gehört: Bei den über 60-Jährigen, insbesondere bei den 64-Jährigen, ist die Erwerbsquote immer noch sehr gering. Da muss also noch deutlich mehr getan werden. Dazu habe ich von dieser Regierung – Sie haben ja vor allen Dingen von der Großen Koalition geredet – jetzt noch kein wirkliches Konzept gesehen. Da müssen wir in der Tat mehr machen, insbesondere im Bereich Gesundheitsprävention; denn das ist, glaube ich, ein ganz zentraler Baustein für die Rente mit 67 im Jahre 2030.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Schauen Sie einmal in die Programme und in den Haushalt!)
– Vielleicht noch etwas zum Haushalt. – Markus Kurth hat es gerade eingeworfen: Bei den Arbeitsmarktmaßnahmen soll ja um 1,5 Milliarden Euro gekürzt werden. Angesichts dessen werden die Arbeitsmarktmaßnahmen für die Älteren sicherlich nicht ausgebaut werden. Das war noch eine ergänzende Antwort auf die Frage von Herrn Weiß.
Wir brauchen insgesamt Arbeitsbedingungen, die nicht krank machen. Wir brauchen gute Arbeit. Frau Fischbach, Sie haben ja neulich in der Debatte gefragt, was denn gute Arbeit ist. Gute Arbeit bedeutet, dass Menschen von ihrer Arbeit nicht krank werden. Das liegt an körperlichen Bedingungen; das liegt aber zunehmend auch daran – auch das hat Herr Juratovic schon gesagt -, dass die Menschen viel mehr unter Stress stehen. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann stellt man fest, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen stark angestiegen ist. Auch da müssen wir ansetzen.
Aber zu guter Arbeit gehört neben den gesundheitlich positiven Arbeitsbedingungen auch eine vernünftige Bezahlung, und dazu gehört auch eine Eindämmung von prekären Jobs. Wer ständig unter Existenzängsten leidet, wird nicht bis 67 durchhalten können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])
„Angst essen Seele auf.“ Wir brauchen mehr Gesundheitsprävention. Wir brauchen einen Mindestlohn, und wir brauchen endlich gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Auch hier geht die Bundesregierung genau in die entgegengesetzte Richtung.
Ehe Sie gleich wieder aufstehen, Herr Weiß, lassen Sie mich sagen: Ich weiß natürlich, dass es in bestimmten Branchen mittlerweile Mindestlöhne gibt. Aber Sie wehren sich ja immer noch gegen den gesetzlichen Mindestlohn für alle, und Sie wehren sich gegen gleichen Lohn für gleiche Arbeit in der Leiharbeit.
Wir Grünen sind keine Traumtänzer. Es wird sicherlich auch in 20 Jahren noch Menschen geben, die nicht bis 67 arbeiten können. Für diese Menschen müssen wir bessere Möglichkeiten schaffen, früher in Rente zu gehen. Dass die Altersgrenze, ab der eine Erwerbsminderungsrente ohne Abschläge bezogen werden kann, von 63 auf 65 Jahre steigen soll, ist vor diesem Hintergrund ein Skandal. Wir wollen das ändern.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Menschen sollen die Möglichkeit erhalten, ihre Arbeitszeit bereits ab einem Alter von 60 Jahren zu reduzieren und Teilrente zu beziehen. Das höre ich zwar immer mal wieder von einzelnen Kolleginnen und Kollegen aus den Regierungsfraktionen. Ein Vorschlag, über den wir diskutieren könnten, liegt bisher allerdings noch nicht vor. Genauso wenig liegt ein Konzept gegen Altersarmut vor. Es gibt Ankündigungen; im nächsten Jahr soll eine Kommission eingesetzt werden, die sich mit der Altersarmut befasst. Wir wissen aber noch immer nicht, was in dieser Kommission tatsächlich besprochen werden soll. Wir wissen auch immer noch nicht, wer Mitglied dieser Kommission werden soll. Angesichts der Dinge, die zurzeit bei der Regelsatzerhöhung und der Gesundheitsreform ablaufen, ist die Ankündigung, dass die Bundesregierung eine Kommission zur Altersarmut bilden will, für viele Betroffene eher eine Drohung als eine Hoffnung.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Allerdings! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das liegt vor allem daran, dass in diesem Jahr zwei große Reformen zu machen waren, weil Rot-Grün verfassungswidrige Gesetze vorgelegt hat!)
Wenn bei dieser Kommission zur Bekämpfung der Altersarmut ähnliche Ergebnisse herauskommen, dann werden wir damit mit Sicherheit nicht einverstanden sein. Sie können aber vielleicht in weiteren Redebeiträgen für Klarheit darüber sorgen, was passieren soll und wie das Konzept der Bundesregierung zur Bekämpfung der Altersarmut aussieht. Ich fürchte aber, dass von Ihrer Seite nicht viel kommen wird.
Zusammenfassend will ich sagen: Wir Grünen nehmen die Sorgen der Menschen sehr ernst und wollen die sozialen Voraussetzungen für die Rente mit 67 schaffen. Im Gegensatz zur der Linken wollen wir sie nicht abschaffen. Der Unterschied zwischen uns und den Linken ist, dass wir sagen: Wenn man die entsprechenden Maßnahmen ergreift, dann bietet die Rente mit 67 tatsächlich die richtige Perspektive, eine Perspektive für die Rentenversicherung und für die Menschen. Diese Voraussetzungen müssen in der Tat aber erst geschaffen werden. Ich hoffe, dass wir bald wieder Gelegenheit haben, diese Voraussetzungen zu schaffen und die Bekämpfung der Altersarmut in Angriff zu nehmen.
Herzlichen Dank.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das habe ich jetzt nicht verstanden!)