Video und Protokoll: Rede vor dem Bundestag – Altersgrenzen in der Rentenversicherung
Redebeitrag von Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (B90/GRÜNE) am 11.11.2010 um 16:03 Uhr (71. Sitzung, TOP 6)
Zum Antrag DIE LINKE: Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (RV-Altersgrenzenanpassungs-Aussetzungsgesetz – RV-AgAG) – Drs 17/3546 –
Protokoll:
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse:
Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für Bündnis 90/Die Grünen.
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben heute eine historische Debatte; denn die Linke hat sich von ihrem fundamentalistischen Nein zur Rente mit 67 verabschiedet und sich zu einer realpolitischen Position durchgerungen.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist gut!)
Die Kollegin Bunge hat das eben noch einmal betont.
Es ist aus unserer Sicht ausdrücklich zu begrüßen, dass sich die Linke von diesem fundamentalistischen Nein zur Rente mit 67 verabschiedet hat. In dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf plädieren Sie für eine Rente mit 67 ab dem Jahre 2035.
(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist schon einmal was!)
Diesen realpolitischen Schritt begrüßen wir. Wir sind nach wie vor für die Rente mit 67 ab 2031. Wir liegen also noch vier Jahre auseinander.
Wir stimmen mit der Linken nicht darin überein, dass die Anhebung der Altersgrenzen ohne Abschlag um zwei Jahre auch für Erwerbsgeminderte und Schwerbehinderte erfolgen soll. So steht es aber in Ihrem Gesetzentwurf. Das halten wir für völlig falsch. Wir haben diese Anhebung immer für einen großen Fehler gehalten. Das gilt auch für den Fall, dass die Anhebung, wie im Gesetzentwurf der Linken vorgesehen, vier Jahre später stattfinden soll. Schließlich ist Erwerbsminderung und Schwerbehinderung nichts, was sich die Menschen aussuchen. Deswegen muss für diese Fälle das Renteneintrittsalter da bleiben, wo es heute ist, und darf nicht gemäß dem Gesetzentwurf der Linken erhöht werden.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dazu gibt es einen eigenen Antrag!)
– Lieber Matthias Birkwald, in der Rede kam all das überhaupt nicht vor. Es stellt sich tatsächlich die Frage: Wie ernst ist das gemeint? Vielleicht hat es doch etwas mit dem heutigen Tag zu tun: Wir haben den 11.11., und Sie kommen aus Köln.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, aber ich bin hier, weil es um ernsthafte Politik geht!)
– Genau, es geht hier um ernsthafte Politik. Ich habe Ihren Gesetzentwurf sehr ernst genommen. Er bedeutet: Sie wollen die Rente mit 67 im Jahr 2035; Sie wollen die Regelaltersgrenze für Schwerbehinderte und Erwerbsgeminderte erhöhen. Ich habe eben meine Position dazu gesagt. Zum ersten Punkt sage ich: Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn er nicht weit genug geht; denn wir sind für die Rente mit 67 ab 2031. Zum zweiten Punkt sage ich: Wir lehnen ihn klar ab. Insofern nehme ich Ihren Gesetzentwurf ernst, offensichtlich ernster als Sie selber.
(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es geht um vier Jahre zum Nachdenken!)
Ich glaube, es interessiert die Menschen nicht wirklich, ob die Rente mit 67 von 2031 auf 2035 verschoben wird. Die Menschen interessiert jenseits der Jahreszahl, ob die Rente zum Leben ausreicht, bis wann sie arbeiten müssen, ob sie früher in Rente gehen können und, wenn ja, unter welchen Bedingungen, und welche Arbeitsbedingungen herrschen. Die Menschen wollen gute Arbeit, die es ermöglicht, länger und gesünder zu arbeiten.
Die Menschen interessiert es aber auch, ob die Rente bezahlbar bleibt und wie hoch die Rentenversicherungsbeiträge sein werden. Auch das müssen wir berücksichtigen, wenn wir über die Rente mit 67 reden. Dieser Aspekt ist jetzt besonders wichtig geworden; denn die Rentenversicherungsbeiträge müssen aufgrund des Sparpakets der Bundesregierung erhöht werden. Das hat der Sachverständigenrat gestern zu Recht kritisiert. So schreibt der Sachverständigenrat für Wirtschaft in seinem gestern vorgestellten Gutachten:
Dennoch ist anzumerken, dass der Bundeshaushalt auf Kosten der Beitragszahler der Gesetzlichen Rentenversicherung entlastet wird. Bei der Streichung der Beiträge für Arbeitslosengeld II-Empfänger handelt es sich … um reine „Verschiebebahnhöfe“.
Der Sachverständigenrat hat recht. Es ist richtig, auf die Beitragsstabilität zu achten.
Wir müssen an die Probleme, die ich gerade genannt habe, unbedingt herangehen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Auch der Sachverständigenrat mahnt das an. Wir müssen tatsächlich erreichen, dass die Menschen gesünder und länger arbeiten können. Wir brauchen gute Arbeit für alle. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen tatsächlich früher als mit 67 in Rente gehen können. Dafür müssen wir mehr flexible Übergangsmöglichkeiten schaffen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Anhebung der Regelarbeitsgrenze nicht zu zunehmender Armut führt. Wir müssen eine Untergrenze einführen: Wer sein Leben lang gearbeitet hat, wer 30 Jahre oder mehr in die Rentenversicherung einbezahlt hat, der soll nicht darauf angewiesen sein, erst sein Vermögen zu verbrauchen und dann zum Sozialamt zu gehen. Wir wollen eine Garantierente für langjährig Versicherte, die über dem Niveau der Grundsicherung liegt.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen. Da hilft kein Herumjonglieren mit irgendwelchen Jahreszahlen, wie es die Linke in ihrem Gesetzentwurf macht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und an Sie, Herr Birkwald, Alaaf!
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)