Mehr Verteilungsgerechtigkeit wagen!

Gepostet am Freitag, den 19. November 2010 um 09:59 in Armut/ Grundsicherung,Grünes Profil,Verschiedenes

Die Gesundheitsdebatte auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Freiburg ist eine Bewährungsprobe für den grünen Anspruch, die Partei des Allgemeinwohls zu sein. Die Positionierung zur Beitragsbemessungsgrenze ist eine zentrale Weichenstellung in der grünen Sozialpolitik. Sie wird zeigen, ob wir bereit sind, für mehr Verteilungsgerechtigkeit einzutreten.


Zwei Zahlen und ein sperriges Wort – ein Konflikt könnte unscheinbarer kaum sein. Am Sonntagmorgen diskutiert der grüne Parteitag in Freiburg über die Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung. Seit Jahren vermeidet die Partei eine klare Positionierung, wie die Bemessungsgrenze in Zukunft ausgestaltet sein soll. Dabei ist eine konkrete Festlegung in dieser auf den ersten Blick unscheinbaren Frage in Wirklichkeit eine entscheidende Bewährungsprobe für unseren sozialpolitischen Anspruch als Grüne.

Das politische Tagesgeschäft dreht sich im Moment vor allem um die Laufzeitverlängerungen, um Stuttgart 21 und um die Frage, ob die Grünen zur neuen Volkspartei werden. Die Freude über steigende Umfragewerte und das ungeahnte Wählerpotential sind riesig, aber die strategische Antwort auf die Herausforderungen einer 20-Prozent-Partei muss durch programmatische Schärfung erfolgen. In der Sozial-, Gesundheits- und Finanzpolitik entscheidet sich in den kommenden Jahren, ob wir Grüne wirklich die Partei des Allgemeinwohls sind, oder ob wir uns davor drücken, Besserverdienende und Vermögende stärker an der Finanzierung des Sozialstaats zu beteiligen.

In Zeiten knapper Kassen mehren sich die Stimmen, die Sozialpolitik endlich vom altbackenen Verteilungsdiskurs trennen wollen. An die Stelle der klassischen Sozialpolitik tritt immer stärker die Frage von Bildungschancen, Teilhabe und Integration. Zweifellos sind das zentrale Themen. Aber wer die Verteilungsfrage außer acht lässt oder gar bewusst übergeht, der ignoriert damit die soziale Realität in dieser Gesellschaft. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in den letzten Jahren massiv gewachsen, die Mittelschicht schrumpft. Immer mehr „Risikogruppen“ wie Alleinerziehenden, Erwerbslosen etc. bleibt eine Teilhabe an dieser Gesellschaft verwehrt. Dafür nur das selektive Bildungssystem verantwortlich zu machen, wäre deutlich zu kurz gesprungen. Mit einer gerechten Steuer- und Sozialpolitik müssen wir der wachsenden Ungleichheit in Zukunft endlich wieder aktiv entgegenwirken. Wir Grüne dürfen uns deshalb nicht auf gerechte Bildungschancen beschränken, sondern müssen uns auch als Partei der Verteilungsgerechtigkeit profilieren.

Doch was hat das mit der Beitragsbemessungsgrenze zu tun? Die Finanzierung des Gesundheitssystems ist eine der zentralen Stellschrauben für die Antwort auf die soziale Frage. Unser Nein zu Röslers unsozialer Gesundheitspolitik ist auch ein klares Ja zu mehr Solidarität. Wir Grüne sprechen uns zu Recht für die Einbeziehung aller Einkommensarten und Berufsgruppen in eine solidarische Bürgerversicherung aus. Diese Verbreiterung der Finanzierung ist ein wichtiger Schritt – aber es darf nicht der Einzige bleiben. Die Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung führt zu absurden Effekten. Bis zu einem Einkommen von gut 60.000 Euro im Jahr steigt die Belastung durch Steuern und Abgaben progressiv an, durch den Wegfall der Krankenkassenbeiträge für Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze sinkt die prozentuale Last jedoch wieder ab. Das ist der Hauptgrund, warum mittlere Einkommen bei uns im internationalen Vergleich besonders belastet sind, obwohl wir eine der niedrigsten Steuerquoten haben.

Unser sozialpolitischer Anspruch muss sich an den Diskussionen und Beschlüssen auf dem Parteitag messen lassen. Die heutige Beitragsbemessungsgrenze liegt aktuell bei 3.750 Euro. Für die grüne Forderung zur zukünftigen Höhe stehen die Werte 4.162,50 Euro und 5.500 Euro zur Abstimmung. Durch die Einführung der solidarischen Bürgerversicherung würde gleichzeitig die Möglichkeit genommen, sich dem Solidarausgleich der Gesetzlichen Krankenversicherung zu entziehen und in die bisher subventionierte Privatversicherung zu wechseln. Entscheidet sich der Parteitag für die 5.500 Euro, dann hätte allein das laut einer Studie im Auftrag der Bundestagsfraktion einen Entlastungseffekt auf den Beitragssatz von immerhin 0,8 Prozentpunkten – der Effekt der geringeren Anhebung wäre mit 0,3 Prozentpunkten nicht einmal halb so groß. Die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze darf aber nicht die einzige Forderung bleiben, schließlich verschiebt sie das Problem nur in höhere Einkommensgruppen. Der Parteitag muss zudem klar machen, dass wir Grüne im Rahmen eines umfassenden Steuer- und Abgabenkonzepts die verrückten Belastungseffekte der Beitragsbemessungsgrenze ausgleichen und beheben werden, um für mehr Verteilungsgerechtigkeit zu sorgen.

Es geht also auch um die Frage, ob wir Grüne den Mut haben, für das Solidarprinzip einzutreten und konkret zu benennen wie das Gesundheitssystem in Zukunft finanziert werden soll. Auf der Bundesdelegiertenkonferenz muss hier ein klares Zeichen gesetzt werden. Wir Grüne dürfen uns nicht im Lichte guter Umfrageergebnisse und steigender Zustimmung sonnen, sondern müssen mit klugen Konzepten eine starke Stimme für Verteilungsgerechtigkeit sein.

Gesine Agena, Bundessprecherin der Grünen Jugend
Rasmus Andresen, MdL Schleswig-Holstein
Emily Büning, Bundessprecherin der Grünen Jugend
Sven-Christian Kindler, MdB
Sven Lehmann, Landesvorsitzender Bündnis 90/Die Grünen Nordrhein-Westfalen
Max Löffler
Marlene Löhr, Landesvorsitzende Bündnis 90/Die Grünen Schleswig-Holstein
Agnieszka Malczak, MdB
Wolfgang Strengmann-Kuhn, MdB

Ein Kommentar zu "Mehr Verteilungsgerechtigkeit wagen!"

  1. am 19. November 2010 um 20:24

    […] ist. Sondern politische Parteien, die sich verändern, in denen Fraktionen um Hegemonie und Veränderung kämpfen – das wäre eine Voraussetzung für einen neue links-grüne Perspektive, die mehr […]