Rede zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre

Gepostet am Donnerstag, den 2. Dezember 2010 um 18:02 in Alterssicherung,Rente mit 67

78. Sitzung vom 02.12.2010

TOP 5, ZP 3 Regelaltersgrenze, Rentenversicherungsbericht

Beratung Antrag B90/GRÜNE: Voraussetzung für die Rente mit 67 schaffen

Stellungnahme von Wolfgang Strengmann-Kuhn zum Einwand der Fraktion DIE LINKE:

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Strengmann-Kuhn für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Debatte über Stuttgart 21 zeigt, dass wir in der Politik anders an Großprojekte herangehen müssen. Auch der Umbau der Rentenversicherung ist ein Großprojekt, bei dem wir die Bevölkerung überzeugen und mitnehmen müssen, sonst wird die Politikverdrossenheit weiter ansteigen.

Die Schlichtung zu Stuttgart 21 hat gezeigt, was dazu als Erstes passieren muss: Die Zahlen und Fakten müssen offen und ehrlich auf den Tisch. Diesbezüglich hat die Bundesregierung in ihrem Bericht „Aufbruch in die altersgerechte Arbeitswelt“ eine große Chance verpasst.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Was nötig gewesen wäre, wären Prognosen über die zukünftige Entwicklung am Arbeitsmarkt – Fehlanzeige. Was aber vor allen Dingen auch nötig gewesen wäre – Sigmar Gabriel hat gesagt, das steht so im Gesetz -, wäre eine ehrliche Darstellung der sozialen und wirtschaftlichen Situation der Älteren heute. Das passt aber nicht zu der Welt von Ursula von der Leyen. Wir haben gerade eben wieder erlebt, wie die rosarote Welt von „Ursula Poppins“, wie sie in der Frankfurter Rundschau vor kurzem bezeichnet wurde, aussieht:

„Erfolg, Erfolg, wir sind erfolgreich,

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sind wir ja auch!)

ich bin erfolgreich, ich bin die Gröößte“, tirilierte sie noch ein letztes Mal und flog wie Mary Poppins durch die Lüfte.

So stand es in diesem Kommentar. Aber es ist nicht alles gut, Frau Ministerin.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Schlecht?

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Im Moment noch nicht, später vielleicht. Ich bin ja jetzt auch bei der Ministerin und nicht bei den Linken.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Verzetteln Sie sich nicht! – Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Hätte ja auch gut gepasst, weil Sie zu Stuttgart 21 was gesagt haben! – Zuruf von der CDU/CSU: Kommen Sie mal zur Sache!)

– Und auch keine Frage zu Stuttgart 21, nein.

Aber es ist nicht alles gut, Frau Ministerin. Zwar steigen die Erwerbsquoten und auch der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an den 60- bis 64-Jährigen an, Herr Lehrieder, selbst in der Krise sogar relativ stark auf 23 Prozent. Aber der Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten an den 64-Jährigen – Herr Ernst hat das schon gesagt -, also in dem Jahr vor dem Renteneintritt, ist im letzten Jahr sogar gesunken. Der Anteil der atypischen Beschäftigungen steigt. Der Anteil der Arbeitslosengeld-II-Bezieher bei den Älteren steigt. Das alles sind Zahlen, die in Ihrem Bericht vorkommen, die Sie aber überhaupt nicht problematisieren, weil es nicht in Ihre rosarote Welt und die der Regierung passt. Schon gar nicht werden in diesem Bericht Lösungen dafür aufgezeigt. Wir brauchen aber Lösungen – gerade für diese Probleme.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Mehrheit der Bevölkerung ist nämlich nach wie vor gegen die Rente mit 67. Die Menschen sind dagegen, weil sie echte Sorgen und Ängste haben. Für diese Sorgen und Ängste brauchen wir Antworten und keine Jubelarien. Die Menschen haben Angst davor, dass sie nicht so lange arbeiten können. Sie haben Angst davor, dass ihre Rente gekürzt wird. Die Menschen haben Angst vor Altersarmut. Sie haben Angst davor, dass sie bis 67 arbeiten müssen, komme, was da wolle.

Wir nehmen diese Sorgen der Menschen sehr ernst und machen Vorschläge, was man da tun kann. Wir sagen: Die Rente mit 67 wird nur dann akzeptiert werden, wenn gewährleistet ist, dass Menschen, die lange versichert sind, nicht zum Sozialamt müssen, vorher ihr ganzes Altersvermögen aufbrauchen und sich einer stigmatisierenden Bedürftigkeitsprüfung unterziehen müssen. Wir schlagen deswegen eine Garantierente vor, die so ausgestaltet ist, dass jemand nach 30 Versicherungsjahren eine Rente über dem Grundsicherungsniveau erhält – vom Staat garantiert.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sagen: Wer nicht mehr kann und erwerbsgemindert ist oder wer schwerbehindert ist, muss wie bisher mit 63 ohne Abschläge in Rente gehen dürfen.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir sagen – wie übrigens auch der Sachverständigenrat -: Die Erwerbsminderungsrente muss insgesamt verbessert werden. Wir sagen: Wer bereit ist, Abschläge in Kauf zu nehmen, soll bereits ab 60 in Rente gehen dürfen und nicht gezwungen sein, weiter arbeiten zu müssen. Wir sagen: Es müssen fließende und selbstbestimmte Übergänge in den Ruhestand geschaffen werden. Es soll möglich sein, ab 60 die Arbeitszeit zu reduzieren und eine Teilrente zu beziehen.
(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Das hört sich schon vernünftig an!)

Von all dem finden wir in dem Bericht der Bundesregierung nichts. Und ich sage Ihnen, Frau Ministerin: So werden Sie die Menschen nicht für sich und nicht für die Rente mit 67 gewinnen können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wie sagte Heiner Geißler? Die Zeit der Basta-Politik ist vorbei.

Die Menschen machen sich aber auch Sorgen, ob ihre Rente in Zukunft noch bezahlbar ist, sie machen sich Sorgen über die hohen Beiträge, die sie bezahlen müssen, und sie machen sich Sorgen, dass die Beiträge in der Zukunft noch ansteigen.

Was wir deshalb auch brauchen, ist eine nachhaltige Finanzierung der Rente. Wir wollen dazu die Rente zu einer Bürgerversicherung weiterentwickeln, für die alle auf alle Einkommen einzahlen, auch wir Politikerinnen und Politiker – eine für alle, auch bei der Rente. Das stabilisiert die Finanzierung der Rentenversicherung und erhöht gleichzeitig die Solidarität.
(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Sehr stabil!)

Wir halten aber darüber hinaus die Rente mit 67 für notwendig, weil dadurch die Beiträge noch geringer sein können und das Rentenniveau höher. Höher, Herr Ernst!

Ich will Ihnen das an Ihrem Kuchenbeispiel verdeutlichen, das ich im Übrigen gar nicht so schlecht finde. Wenn die Regelaltersgrenze bei 67 und nicht bei 65 liegt, gibt es weniger Rentnerinnen und Rentner. Einverstanden? – Gut. Auf der anderen Seite gibt es mehr Beitragszahlerinnen und Beitragszahler. Das heißt, der gesamte Rentenkuchen wird zumindest nicht kleiner, sondern eher größer. Herr Ernst, was ist denn mit den einzelnen Stücken, wenn dieser Kuchen auf weniger Rentnerinnen und Rentner verteilt wird:
(Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Sie werden größer!)

Werden die Stücke dann kleiner oder größer? – Sie werden größer. Das heißt, mit der Rente mit 67 werden die Rentenkuchenstücke für die einzelnen Rentnerinnen und Rentner größer; das Rentenniveau steigt. Wir sind deswegen gegen die Abschaffung der Rente mit 67.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU): Genauso ist es! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Da hat er recht!)

Auch die Aussetzung der Rente mit 67, wie sie die SPD vorschlägt, finden wir nicht überzeugend. Ich gebe zu, dass wir darüber diskutiert haben; denn auch wir sind der Meinung, dass die Voraussetzungen für die Rente mit 67 heute noch nicht gegeben sind.
(Anton Schaaf (SPD): Aber in zwei Jahren?)

Es geht aber nicht um die Rente mit 67 heute, sondern im Jahr 2031. Das entscheidende Argument gegen eine Aussetzung war für uns, dass eine Aussetzung von vielen – Herr Gabriel und Herr Schaaf, nicht von Ihnen – als Einstieg in den Ausstieg aus der Anhebung der Regelaltersgrenze verstanden würde. Das halten wir für fatal, weil es zu einer Selffulfilling Prophecy werden kann: Der Druck, die Voraussetzungen für die Rente mit 67 zu schaffen, wird verringert.

Eine wichtige Voraussetzung für die Anhebung der Altersgrenze ist ein veränderter Arbeitsmarkt. Wir halten es für ein wichtiges Signal insbesondere an die Unternehmen, dass die Rente mit 67 kommen wird, damit sich die Unternehmen endlich darum kümmern, mehr Arbeitsplätze für Ältere zu schaffen. Vor allen Dingen müssen sich die Unternehmen darum kümmern, die Arbeitsplätze so zu gestalten, dass die Menschen wirklich länger und gesünder arbeiten können.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb (FDP))

Die meisten Menschen würden gerne länger arbeiten, wenn sie denn könnten. Wenn die Bedingungen aber nicht so sind, dann müssen wir sie ändern: So gehen wir Grüne an Probleme heran.
(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Arbeitsbedingungen müssen nicht nur für die Älteren geändert werden: Wenn die Rente mit 67 ab 2031 – darum geht es – für möglichst viele Menschen erreichbar sein soll, müssen wir auch die Arbeitsbedingungen der Jüngeren ändern. Wir brauchen eine Kampagne für eine umfassende Humanisierung der Arbeitswelt; damit müssen wir sofort anfangen. Dabei sind wir alle gefordert: Unternehmen, Gewerkschaften, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, natürlich auch die Politik. Die Maßnahmen, die im Bericht der Bundesregierung genannt werden, reichen hier bei weitem nicht aus.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir Grüne nehmen diese Herausforderungen ernst und werden uns darum kümmern, die Voraussetzungen für die Anhebung der Regelaltersgrenze zu schaffen, für mehr Beschäftigung von Älteren, um Rentenkürzungen zu vermeiden, für bessere Arbeitsbedingungen, für eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters und für eine Garantierente, um Altersarmut zu verhindern.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)