Interview zur Regelsatzerhöhung

Gepostet am Freitag, den 17. Dezember 2010 um 16:16 in Armut/ Grundsicherung,Grundeinkommen,Grundsicherung/ Hartz IV,Regelsatz,Verschiedenes

Junge Welt, 16.12.

„Mitverantwortung meiner Partei gibt es durchaus“

Abgeordneter der Grünen plädiert für ein Gegenkonzept zu Hartz IV. Alternative Berechnung des Bedarfs

Wolfgang Strengmann-Kuhn ist Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen und hat mit dem Frankfurter Arbeitskreises Armutsforschung eine fachliche Stellungnahme zur Berechnung der Regelsätze herausgegeben

Der Bundesrat wird am Freitag über den Hartz IV-Gesetzentwurf der Bundesregierung entscheiden, der unter anderem die Erhöhung der monatlichen Regelleistung von nur fünf Euro auf 364 vorsieht. Der Frankfurter Arbeitskreis Armutsforschung hat einen anderen Bedarf ermittelt?

Den von uns genannten Betrag von zwischen 433 Euro und 480 Euro für den ersten Erwachsenen und 314 bis 359 Euro für den zweiten Erwachsenen in einer Familie haben wir nicht selber ermittelt. Wir beziehen wir uns auf eine von der der Diakonie in Auftrag gegebene und der Volkswirtin Irene Becker durchgeführte, die zu unsere Arbeitskreis gehört. Uns geht es vor allem darumoffen zu legen, an welchen Punkten die CDU/FDP-Bundesregierung ihre Berechnungen methodisch unkorrekt vorgenommen hat und welche verfassungsrechtlichen Probleme es gibt. Die genannten Beträge sollen darstellen, in welchem Umfang die Bundesregierung den Regelsatz herunter gerechnet hat.

Wie kommt die Differenz des Betrags von 480 zu 433 für einen Alleinstehendenzustande?

Auf 480 Euro für einen Alleinstehenden ergeben sichbei vollständiger Umsetzung des Bundesverfassungsgerichtsurteils. Werden die wichtigsten Anforderungen umgesetzt sowie eine empirisch fundierte und begründbare Reduzierungen vorgenommen, ergibt sich der geringere Betrag von 433 für einen Alleinstehenden gibt aus unserer Sicht eine untere Grenze an.

Was kritisieren Sie an den Berechnungen der Bundesregierung?

Um auf das Existenzminimum von 364 Euro zu kommen, hat die Bundesregierung nicht wie bisher die Einkünfte der untersten 20 Prozent der Single-Haushalte berücksichtigt, sondern nur die untersten 15 Prozent. So hat man die Vergleichsgruppe reduziert und deren Einkommen gemindert, deren Ausgaben die Basis der der Regelsatzberechnung ist. Außerdem hat man die Ausgaben der Hartz IV Empfänger nicht methodisch korrekt berechnet. Beispielsweise hat man Alkohol und Tabak heraus gerechnet, weil dies nicht zum Existenzminimum gehöre. Das kann man zwar machen, man hätte aber zumindest vergleichsweise Haushalte für die Berechnung heranzuziehen müssen, die ohne auskommen, denn die geben vermutlich ersatzweise Geld für andere Dinge aus. Beim Handy hat man zum Beispiel die statistischen Ausgaben von Familien untersucht, die keines besitzen – bei Schnittblumen und Zimmerpflanzen, Haustieren, elektrische Gartengeräte und vielen anderen Gütern hingegen ebenfalls nicht. So hat die Bundesregierung insgesamt einen Betrag von 60 Euro heruntergerechnet. Außerdem hatte das Bundesverfassungsgericht gemahnt, dass die verdeckt Armen, die aus Scham oder Unwissen kein Hartz IV beantragen, aber einen Anspruch haben, nicht herausgerechnet werden dürfen. Die Linke hat vom Statistischen Bundesamt berechnen lassen, dass diese Unterlassung sowie die Verringerung von 20% auf 15% der unteren Einkommen zusammen einen Betrag von 28 Euro ausmachen.

Die Partei Die Linke hat eine alternative Hartz IV-Kommission unter Einbeziehung von unabhängigen Forschern ins Leben gerufen, plädiert aber dafür, den Betrag pro Person zu berechnen – nicht paarweise. Dort hat man einen Bedarf von rund 510 Euro errechnet!

Diese Größenordnung lässt sich auf dieser Basis durchaus begründen. Es gibt einen gewissen Spielraum für Wertentscheidungen. So ist die Diakonie unter anderem deshalb auf einen Betrag von 433 Euro gekommen, weil , beispielsweise für einen Kühlschrank oder eine Waschmaschine, wieder einmalige Leistungen eingeführt werden sollen.

Wenn Die Grünen im Saarland durch Ihre Enthaltung dafür sorgen, dass die geplante Hartz IV-Reform den Bundesrat nicht passieren kann, soll ein Vermittlungsausschuss tätig werden. Was erwarten Sie davon?

Wir wollen eine Berechnung des Regelsatzes haben, die dem Urteil des Verfassungsgerichts entspricht. Alkohol und Tabak sind weiterhin zum Existenzminimum hinzuzurechnen, weil das zur Teilhabe am sozialen Leben gehört.

Die Grünen sind in der Kritik, weil das Hartz-Gesetz unter der rot-grünen Regierung verabschiedet wurde…

Eine gewisse Mitverantwortung der Grünen gibt es, weil wir an der Regierung beteiligt waren. Die damalige Verordnung wurde aber einstimmig mit allen Landesregierungen beschlossen. Ich persönlich habe schon immer zu den Kritikern gehört und bin für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Also für das Gegenkonzept zu Hartz IV, wo man mit Sanktionen und Kürzungen auf Sozialhilfeempfänger Druck ausübt, um sie in die Arbeit zu zwingen.
Interview: Gitta Düperthal

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