SELBSTSTÄNDIGE IN DIE GESETZLICHE RENTENVERSICHERUNG – FRAKTIONSBESCHLUSS VOM 12.3.2013
Selbstständigkeit wird in Deutschland für immer mehr Menschen eine Option im Berufsleben. Die Zahl der Selbstständigen ist zwischen 1991 und 2010 um 40 Prozent, von etwas über 3 Millionen auf gut 4,3 Millionen, gestiegen. Insgesamt waren 2010 in Deutschland elf Prozent der erwerbsfähigen Personen im Vollerwerb selbstständig tätig. Die Zunahme der Selbstständigkeit ist Ausdruck eines grundlegenden Wandels in den Formen der Erwerbsarbeit. Es gibt weniger Menschen, die langjährig, durchgehend sozialversicherungspflichtig erwerbstätig sind. Stattdessen steigt die Zahl der Menschen, die unstet beschäftigt sind, bei denen sich Zeiten von abhängiger Beschäftigung, Selbstständigkeit, Familienphasen mit Zeiten von Arbeitslosigkeit ablösen.
Auch die Strukturen der selbstständigen Beschäftigung haben sich gewandelt. Neben die klassischen Selbständigen ist ein neuer Typ von Selbständigen getreten und die Grenzen zwischen selbständiger und abhängiger Tätigkeit sind fließender geworden.
Diese „neuen“ Selbständigen sind zumeist alleine ohne weitere Angestellte tätig. Seit Mitte der 1990er Jahre speist sich der Zuwachs selbstständiger Beschäftigung in Deutschland hauptsächlich aus der Zunahme dieser Form der Selbstständigkeit. Auch wenn ein Teil dieser Selbstständigen hohe Einkünfte erzielt, haben sie im Durchschnitt geringere Einkommen als die meisten der „klassischen“ Selbstständigen und sind eher von sozialen Risiken und Gefahren wie zum Beispiel unzureichender sozialer Absicherung, fehlender Altersvorsorge und Altersarmut betroffen.
In Deutschland sind Selbstständige, anders als in der Mehrzahl der übrigen EU-Staaten, nicht obligatorisch in einem Alterssicherungssystem abgesichert. Es existieren zum Einen bestimmte Berufssparten, die mit zum Teil unterschiedlichen Regelungen obligatorisch in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen sind, wie zum Beispiel selbstständige Lehrerinnen und Lehrer, Hebammen und Entbindungspfleger, Seelotsinnen und Seelotsen und andere. Zum Anderen gibt es Personengruppen, die aufgrund individueller Kriterien pflichtversichert sind, etwa weil sie als Selbstständige keine versicherungspflichtigen Angestellten beschäftigen und im Wesentlichen nur für eine Auftraggeberin bzw. einen Auftraggeber arbeiten. Weiterhin gibt es Selbstständige, die in berufsständischen Versorgungswerken überwiegend auf Basis eines Kapitaldeckungsverfahrens versichert sind (Ärzte, Rechtsanwälte und andere). Alle anderen Selbstständigen können zwischen der Mitgliedschaft auf Antrag und der freiwilligen Versicherung in der gesetzlichen Rentenversicherung wählen.
Der heute existierende gesetzgeberische Flickenteppich, der eher willkürlich und unsystematisch bestimmte Gruppen von Selbstständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einbezieht, ist allenfalls historisch, nicht aber systematisch zu begründen und führt zu nicht nachvollziehbaren Ungleichbehandlungen gleicher oder zumindest vergleichbarer wirtschaftlicher Lagen. Die starke Gliederung in der Alterssicherung wird dem Wandel in den Formen der Erwerbsarbeit nicht mehr gerecht, weil sie zu Sicherungslücken führt und immer mehr Menschen, die zwischen unterschiedlichen Erwerbsformen – und damit auch Alterssicherungssystemen – wechseln, auf diese Weise auch die über lange Jahre erworbenen Anspruchsvoraussetzungen auf Reha-Leistungen und Erwerbsminderungsrenten verlieren.
Die Vielfalt der Regelungen für die Altersvorsorge ist auch aus wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischer Sicht problematisch. Wenn die Regeln für die Vorsorge für das Alter für die verschiedenen Gruppen so unterschiedlich sind, führt dies unvermeidlich – neben unterschiedlich hohen Rentenansprüchen im Alter – auch zu unterschiedlich hohen Arbeitskosten und damit ungleichen Chancen auf den Zugang oder Erhalt eines Arbeitsplatzes bzw. einer Erwerbstätigkeit. Wir müssen auch diesbezüglich gleiche Voraussetzungen für alle schaffen.
PERSPEKTIVE BÜRGERVERSICHERUNG
Wir wollen die Rentenversicherung schrittweise von der ursprünglichen, berufsständisch gegliederten Arbeiterversicherung zu einer universellen BürgerInnenversicherung weiterentwickeln, in der grundsätzlich für alle Bürgerinnen und Bürger gleiche Regelungen, Rechte und Pflichten gelten. Unser Ziel ist es, dass erstens alle und zweitens alle in der gleichen Art und Weise abgesichert sind. Wir sind der Überzeugung, dass eine gesetzliche Rentenversicherung, die alle einbezieht, auch Politikerinnen und Politiker, Beamte und Selbständige, Ausdruck einer solidarischen und inklusiven Gesellschaft ist. Für uns ist es eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, dass in der Alterssicherung alle, die sich in der gleichen wirtschaftlichen Situation befinden, auch gleich behandelt werden.
Nur in der gesetzlichen Rentenversicherung sind die Kontinuität des Versicherungsschutzes gewährleistet und die Rentenanwartschaften durch den Generationenvertrag besonders verlässlich abgesichert. Die gesetzliche Rentenversicherung gewährt auch bei Erwerbsminderung und bei Rehabilitationsbedarfen soziale Sicherheit. Diesen Schutz können Selbstständige am Markt in der Regel nur zu hohen Kosten bzw. in Abhängigkeit vom individuellen Erwerbsstatus und Gesundheitsstand erhalten.
Nichts hemmt Kreativität, Innovation und Schaffenskraft mehr als Existenzsorgen, seien sie tagesaktuell oder auf die Zukunft bezogen. Wir sind deshalb davon überzeugt: Die Förderung von Selbständigkeit braucht ein höheres Maß an sozialer Sicherheit, die auch den Schutz bei Erwerbsminderung und vor Altersarmut beinhaltet, Das gilt insbesondere für Selbstständige, die nur über ein geringes Einkommen verfügen. Unzureichende Altersvorsorge und die daraus resultierende Gefahr drohender Altersarmut sind Probleme, die gerade diese Gruppe vor immer größere Probleme stellt. Daher ist es wichtig, dass auch dieser Personenkreis der Zugang zu Erwerbsminderungsrente und Rehabilitationsleistungen erhält. Zudem wollen wir durch die Einführung einer Garantierente für langjährig in der gesetzlichen Rentenversicherung Versicherte gewährleisten, dass auch und gerade Selbständige, die nur geringe Beiträge zahlen können, eine Rente über dem durchschnittlichen Grundsicherungsniveau erhalten. Die Garantierente soll ein Signal speziell an Selbständige mit geringen Einkommen senden, dass sich die Beiträge zur Rentenversicherung auch lohnen.
Darüber hinaus muss die Einbeziehung in die Rentenversicherung so ausgestaltet sein, dass sie Selbstständige nicht überfordert. Die Option Selbstständigkeit darf nicht nur auf dem Papier bestehen, sondern muss real möglich sein – auch beim Blick ins Portemonnaie. Hohe Beiträge zur Altersvorsorge, die in keinem Verhältnis zu den Einkommen stehen, sind dazu nicht der geeignete Weg. Auf Einkommen, das nicht erzielt wird, kann auch kein Beitrag erhoben werden. Deshalb gilt für uns: Auch Selbstständige zahlen Beiträge in Abhängigkeit von ihren Einkommen.
Einkommen von Gering- und Durchschnittsverdienern sind in Deutschland so hoch mit Sozialabgaben belastet wie in kaum einem anderen Land der OECD. Deshalb wollen wir, dass die Sozialabgaben insbesondere für diejenigen gesenkt werden, deren Einkommen vor allem von hohen Sozialversicherungsbeiträgen aufgezehrt werden. Ein wichtiger Beitrag dazu ist die grüne Bürgerversicherung in der Kranken- und Pflegeversicherung, die eine strikte Einkommensbezogenheit der Beiträge bis zur (erhöhten) Beitragsbemessungsgrenze vorsieht. Gerade Selbstständige mit geringen Einkünften würden hierdurch deutlich entlastet. Darüber hinaus prüfen wir weitere Maßnahmen zur Entlastung im unteren Einkommensbereich und wie verhindert werden kann, dass Menschen aufgrund ihrer Sozialversicherungsbeiträge auf ergänzendes ALG II angewiesen sind.
EINBEZUG NICHT ABGESICHERTER SELBSTSTÄNDIGER IN DIE GESETZLICHE RENTENVERSICHERUNG
Mittelfristig streben wir gleiche Voraussetzungen und gleiche Rechte für alle Selbständigen bei der Vorsorge für das Alter an. Bezüglich der sonst nicht abgesicherten Selbständigen sehen wir aber sofortigen Handlungsbedarf. Hierfür schlagen wir folgende Eckpunkte vor:
• Ab einem Stichtag wollen wir in einem ersten Schritt all jene Selbstständigen mit einbeziehen, die nicht in anderen Alterssicherungssystemen integriert sind. Aus Vertrauensschutzgründen ist eine Übergangsregelung für diejenigen Selbstständigen erforderlich, die infolge der bisherigen Versicherungsfreiheit ihrer Erwerbstätigkeit bereits Vorkehrungen für Ihre Alterssicherung getroffen haben.
• Wir wollen die Versicherungspflicht der sonst nicht abgesicherten Selbständigen so ausgestalten, dass die Erfassung einfach und möglichst unbürokratisch erfolgt. Bei abhängig Beschäftigten erfolgt die Erfassung durch die Meldung des Arbeitgebers, die Beiträge werden unmittelbar im Rahmen des Lohnabzugsverfahrens an die Rentenversicherungsträger abgeführt. Für Selbstständige, bei denen die Melde- und Versicherungspflichten derzeit unterschiedlich gestaltet sind, wollen wir ähnlich einfache und praktikable Regelungen umsetzen. Wir wollen dabei bürokratische Doppelstrukturen vermeiden und in erster Linie die bestehenden Strukturen nutzen. So wollen wir bezüglich der Selbstständigen mit gewerberechtlicher Anzeigepflicht die nach der Gewerbeordnung zuständigen Behörden mit einbinden, die der Datenstelle der Rentenversicherungsträger die notwendigen Informationen zur Verfügung stellen. Darüber hinaus streben wir zur besseren Erfassung der versicherungspflichtigen Selbständigen und ihrer Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit eine Zusammenarbeit zwischen Finanzämtern und der Rentenversicherung an.
• Um der Lebenswirklichkeit häufig schwankender Einkommen von Selbstständigen Rechnung zu tragen, soll wahlweise das zu versteuernde Jahreseinkommen des Vorjahres zugrunde gelegt oder das zukünftige jährliche Arbeitseinkommen geschätzt werden. Die Beiträge werden von den Versicherten selbst getragen und monatlich abgeführt. Auf Wunsch soll auch eine andere Periodizität der Beitragszahlung im Voraus möglich sein. Darüber hinaus wollen wir für Selbständige in der gesetzlichen Rentenversicherung die Möglichkeit schaffen, bis zur doppelten Beitragsbemessungsgrenze freiwillige Beiträge einzuzahlen.
• Für ExistenzgründerInnen soll es Sonderregelungen geben. Das gegenwärtige Rentenrecht sieht für die ersten drei Kalenderjahre nach der Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit einen halben Regelbeitrag vor. Wir wollen in der Existenzgründungsphase mehr Flexibilität ermöglichen ohne dass dabei Versicherungslücken entstehen. In den ersten drei Jahren wollen wir eine Wahlfreiheit zwischen voller oder halbierter Beitragszahlung einräumen. Im ersten Jahr soll es darüber hinaus die Möglichkeit geben, nur einen Mindestbeitrag auf ein angenommenes Einkommen von 400 Euro im Monat zu zahlen. Die Zahlung wenigstens dieses Mindestbeitrags ist für die Versicherten notwendig und sinnvoll, damit der Anspruch auf die Garantierente, aber auch auf Erwerbsminderungsrente und auf Reha-Leistungen erhalten bzw. erworben werden kann. Bei geförderten Existenzgründungen aus der Arbeitslosigkeit heraus soll dieser Mindestbeitrag in den Gründungszuschuss integriert und die Kosten von der Arbeitslosenversicherung übernommen werden. Dabei soll der derzeitige Beitrag, der im Gründungszuschuss für die Sozialversicherung gedacht ist, nicht überschritten werden.