epd: Volle Sozialhilfe für bei den Eltern lebende Behinderte – Lebenshilfe: 30.000 Personen profitieren

Gepostet am Mittwoch, den 23. Juli 2014 um 16:43 in Armut/ Grundsicherung,Regelsatz,Sonstige Sozialpolitik

Darin:
«Die Regelsatzstufe 3 muss jetzt abgeschafft werden», forderte Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Sozialpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Das Urteil sei eine schwere Rüge für die Politik der Bundesregierung, denn einmal mehr hätten «Gerichte der Menschenwürde zum Durchbruch verhelfen müssen.»

Kassel (epd). Behindert, unverheiratet und bei den Eltern lebend: Das darf für das Sozialamt kein Grund sein, die Sozialhilfe um 20 Prozent zu kürzen. Das entschied das Kasseler Bundessozialgericht am Mittwoch in drei Verfahren. Demnach müssen die Sozialbehörden grundsätzlich davon ausgehen, dass behinderte oder pflegebedürftige Menschen auch beim Zusammenleben mit Eltern oder anderen Personen einen eigenen Haushalt führen können. Sie haben also Anspruch auf den vollen Sozialhilfesatz. (AZ: B 8 SO 14/13 R, B 8 SO 31/12 R und B 8 SO 12/13R).

Sozialämter können demnach nur im Ausnahmefall die Sozialhilfe nach der sogenannten Regelbedarfsstufe 3 bemessen, die eine Sozialhilfekürzung um 20 Prozent vorsieht.

Die gesetzlichen Bestimmungen sehen vor, dass erwachsene, alleinstehende Personen mit eigenem Haushalt den vollen Sozialhilfesatz erhalten. Verheiratete oder in eheähnlicher Gemeinschaft lebende Personen erhalten 90 Prozent und Erwachsene, die weder einen eigenen Haushalt noch einen Partner haben, können nur 80 Prozent beanspruchen.

In den jetzt verhandelten Fällen war eine alte pflegebedürftige Frau zu ihrer Freundin in deren Wohnung gezogen. Die Freundin übernahm die Pflege. In den zwei weiteren Fällen lebten die geistig behinderten erwachsenen Kläger noch bei ihren Eltern.

Alle bekamen vom Sozialamt nur die um 20 Prozent abgesenkte Sozialhilfe. Die Kläger hätten keinen eigenen Haushalt geführt und würden auch nicht mit einem Partner zusammenleben, lautete die Begründung der Behörden. Die Kläger hielten die Vorschriften zur Absenkung der Sozialhilfe für verfassungswidrig.

Das BSG verwies die Verfahren wegen fehlender Feststellungen an die Vorinstanzen zurück. Es korrigierte aber die verbreitete Annahme der Sozialhilfeträger, dass behinderte und pflegebedürftige Menschen, die bei ihren Eltern oder anderen Personen leben, keinen eigenen Haushalt führen können. Grundsätzlich müssten die Behörden davon ausgehen, dass behinderte oder pflegebedürftige Sozialhilfeempfänger ohne Partner, die mit einer oder mehreren Personen zusammenleben, einen eigenen Haushalt haben. Damit stehe ihnen der volle Sozialhilfesatz zu.

Eine Hilfekürzung auf 80 Prozent sei nur denkbar, wenn das Sozialamt dem Behinderten keinerlei Haushaltsführung im Zusammenleben mit einer anderen Person nachweisen kann. Aber selbst dann blieben die verfassungsrechtlichen Probleme bestehen.

Nach Angaben der Lebenshilfe profitieren mindestens 30.000 bis 40.000 behinderte Menschen von der Entscheidung. «Wir freuen uns, dass jetzt die Ungleichbehandlung gestoppt wurde», sagte Antje Welke, Justiziarin der Lebenshilfe. Nun habe man zügig eine bessere Situation für die Betroffenen. «Die Hilfebedürftigen können rund 80 Euro mehr im Monat erhalten», sagte Welke.

«Die Regelsatzstufe 3 muss jetzt abgeschafft werden», forderte Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Sozialpolitik der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Das Urteil sei eine schwere Rüge für die Politik der Bundesregierung, denn einmal mehr hätten «Gerichte der Menschenwürde zum Durchbruch verhelfen müssen.»

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