20 Grüne Abgeordnete befragten die Regierung zur Behindertenpolitik
Fragen für die Fragestunde der 77. Sitzung des Deutschen Bundestages am Mittwoch, dem 1. Dezember 2010
Zum diesjährigen Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember stellten 20 Abgeordnete der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen Fragen an die Bundesregierung zur Politik für Menschen mit Behinderungen. Ressortübergreifend wollten die Grünen Abgeordneten wissen, welche Aktivitäten die Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention plant. Die Fragestunde fand am Mittwoch, den 1. Dezember, statt. Anbei erhalten Sie eine Übersicht der Fragen und Antworten.
20 Grüne Abgeordnete stellen Fragen zur BRK und Antworten [PDF]
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Sprecher für Rentenpolitik (Fragen wurden mündlich beantwortet: http://dip21.bundestag.btg/dip21/btp/17/17077.pdf, S. 55ff.)
Fragen zu: Erwerbsminderungsrente und Betriebliches Eingliederungsmanagement: Antwort- Bundesregierung ist gegen Wiederherabsetzung der abschlagsfreien Regelaltersgrenze für Erwerbsminderungsrente und Rente wegen Schwerbehinderung – Regionalstellen wurden errichtet, um das Betriebliche Eingliederungsmanagement (BEM) in kleinen und mittleren Unternehmen bekannter zu machen – Eine dynamische Weiterentwicklung des BEM ist nicht vorgesehe.
1. Welche Zahlen liegen der Bundesregierung vor, wie viele Menschen von der Heraufsetzung der abschlagsfreien Regelaltersgrenze für Erwerbsminderungsrente und Rente wegen Schwerbehinderung betroffen sein werden und wie bewertet Bundesregierung den Vorschlag, die Altersgrenze für diese Personengruppen wieder auf 63 Jahre abzusenken?
Antwort: Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Auf Ihre Frage möchte ich Folgendes antworten: Die Altersgrenze für den abschlagsfreien Beginn der Altersrente für schwerbehinderte Menschen wird ab dem Jahrgang 1952 stufenweise von 63 auf 65 Lebensjahre angehoben. Die Altersgrenze für eine frühestmögliche Inanspruchnahme wird analog vom 60. auf das 62. Lebensjahr erhöht. Es ist damit zu rechnen, dass im Jahr 2009 – das bezieht sich auf Ihre Frage nach der Anzahl der Betroffenen – gut 80 000 Personen auf diese Weise in Rente gegangen sind. Das entspricht hier ungefähr 9,3 Prozent der Versichertenrentenzugänge. Das Referenzalter für die Berechnung von Abschlägen bei Renten wegen Erwerbsminderung wird ebenfalls stufenweise vom 63. auf das 65. Lebensjahr angehoben. Für Rentenzugänge in jüngeren Jahren ergeben sich keine Veränderungen. Höhere Abschläge als nach bisherigem Recht können sich nur für Versicherte ergeben, die zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr in Erwerbsminderungsrente gehen. Auch die maximale Abschlagshöhe von 10,8 Prozent bleibt unverändert. Im Jahr 2009 sind knapp 175 000 Personen in Erwerbsminderungsrente gegangen. Darunter waren knapp 13 000 Personen – das sind 7,4 Prozent – im Alter von 60 bis 64 Jahren. Da das zukünftige individuelle Rentenzugangsverhalten nicht bekannt ist, kann über die Anzahl der von der geänderten Regelung in Zukunft betroffenen Personen keine Aussage gemacht werden. Zudem hängt die Anzahl der von der Anhebung des Referenzalters betroffenen Personen davon ab, bei wie vielen Rentenzugängen ab dem Alter 60 bei der Berechnung der Abschläge das bisherige Referenzalter von 63 Jahren angelegt wird, weil 35 bzw. 40 Pflichtjahre – Letzteres gilt ab dem Jahr 2024 – vorliegen. Eine Rückkehr zu der Altersgrenze von 63 – darauf bezieht sich Ihre Frage – ist nicht möglich. Die weiter steigende Lebenserwartung und die gleichzeitig sinkenden Geburtenzahlen – hiermit komme ich zu dem Thema, das in dieser Woche hier im Parlament noch eine Rolle spielen wird – machen die stufenweise Anhebung 25 der Altersgrenze zu einer wichtigen Maßnahme, um die Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung stabil halten und das Niveau der Rente sichern zu können. Deswegen ist aus unserer Sicht keine Veränderung vorgesehen. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass es auch aufgrund des Arbeitskräftemangels notwendig ist, dass wir diesen Weg gehen. Die besondere Situation der schwerbehinderten Menschen wird auch künftig besonders berücksichtigt, indem zwar die Altersgrenze für den abschlagsfreien Bezug von Altersrenten grundsätzlich auf 67 Jahre angehoben wird, aber schwerbehinderte Menschen die abschlagsfreie Altersrente schon mit 65 Jahren beantragen können. Somit wird auch künftig der zweijährige, bisher bekannte Abstand zur Regelaltersgrenze beibehalten.
Nachfrage: Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Vielen Dank für die Antwort, Herr Fuchtel. – Bei gesunden Menschen kann man ja vortrefflich über die Anhebung der Altersgrenze streiten. Das werden wir dann morgen hier im Plenum auch tun. Bei der Rente mit 67 sind wir ja durchaus eher beieinander. Ich finde aber, bei Erwerbsgeminderten und Schwerbehinderten stellt sich die Situation ganz anders dar. Erwerbsminderung sucht man sich nicht aus. Und um dem Fachkräftemangel zu begegnen, auf den Sie verwiesen haben, nützen die Erwerbsgeminderten ja auch relativ wenig. Auch bei Schwerbehinderten handelt es sich um eine spezielle Gruppe. Sehen Sie es nicht auch so, dass es nicht zumutbar ist, dass Angehörige dieser Gruppe länger arbeiten sollen? Die Erwerbsgeminderten können ja gar nicht länger arbeiten; für diese stellt die Rente mit 67 tatsächlich eine reine Rentenkürzung dar. Halten Sie es tatsächlich für vertretbar, bei dieser Gruppe eine Rentenkürzung vorzunehmen?
Antwort: Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Wir haben bisher schon eine spezielle Situation bei der Bewertung. Ich habe gerade dargestellt, dass sich diese ganz großteilig auch weiterhin so zeigen wird – nur allerdings mit einer Verschiebung von zwei Jahren. Wenn dann eine entsprechend starke Erwerbsunfähigkeit gegeben ist, wenn beispielsweise eine Beschäftigung unterhalb einer bestimmten Zahl von Stunden am Tage nicht zumutbar ist, besteht natürlich die Möglichkeit, eine Erwerbsminderungsrente zu beantragen und auf diese Weise aus dem Erwerbsleben auszuscheiden. Es geht hier nicht nur darum, dass Leute frühestens mit 60, wie jetzt, bzw. in Zukunft mit 62 ausscheiden können, sondern auch künftig werden solche Leute zum Beispiel schon weit vor dem 60. Lebensjahr ausscheiden können. Es gibt hier Zurechnungszeiten; dann wird eben eine Rentenbewertung nach speziellen Regelungen durchgeführt.
Nachfrage: Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN): Sie haben eben selber gesagt: Im Altersbereich zwischen 60 und 65 gibt es Einflüsse. Deswegen dazu – die Zahlen fand ich sehr interessant – noch eine Nachfrage: Warum kommen solche Zahlen nicht in dem Bericht vor, den wir morgen diskutieren? Es wäre doch eigentlich sehr gut, wenn man tatsächlich die Vor- und Nachteile der Rente mit 67 bzw. der Anhebung der Regelaltersgrenzen für die verschiedenen Renten ehrlich nennen würde, um eine offene Debatte führen zu können.
Antwort: Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Die offene Debatte wird sicher von uns geführt werden. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie offensiv wir diese Debatte führen werden. Wir wissen heute, dass die Menschen länger gesund sind, dass sie in einer anderen körperlichen Verfassung als vor 20 Jahren sind. Da es immer nicht gesagt wird, sage ich es hier: Der Übergang kommt nicht an einem Tag von null auf hundert, sondern es ist jetzt ein langer Übergang vorgesehen; es wird bis zum Jahre 2029 dauern, bis die Endstufe erreicht sein wird. Überlegen Sie, was vor 20 Jahren war und was heute ist. Vielleicht machen Sie sich auch einmal Gedanken, was für Veränderungen in den nächsten 20 Jahren – in der Frage des Arbeitsprozesses, bei der Form der Ausgestaltung von Arbeit – noch eintreten können. Vor diesem Hintergrund ist auch zu sehen, dass wir nicht mehr von der Rente mit 67 reden, sondern dass wir von Arbeit bis 67 sprechen. Wir stellen also von uns aus ganz transparent und plakativ dar, dass wir diesen Prozess auch von der gesundheitlichen Seite her in ganz neuer Form mitgestalten müssen und auch alle Möglichkeiten prüfen werden, was man noch tun kann, um sogenannte gute Arbeit zu sichern und um auf diesem Wege dem Menschen zu helfen, dass er seine Arbeit bei guter Gesundheit verrichten kann. In der Zwischenzeit haben wir eine Fülle von Programmen auf den Markt gebracht. Es gibt seit 2004 das BEM; das war die erste Initiative, um das betriebliche Eingliederungsmanagement neu zu formen. Das gilt es jetzt umzusetzen. Wir haben das Programm INQA. Eine Vielzahl von Programmen wird also diesen Prozess begleiten und dann auch die entsprechenden Verbesserungen erbringen.
2. Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung aus der Studie zum Stand der Umsetzung des im Jahr 2004 eingeführten Institut des Betrieblichen Eingliederungsmanagements (BEM) nach § 84 Abs. 2 SGB IX unter der wissenschaftliche Projektleitung von Prof. Dr. Dr. Mathilde Niehaus aus dem Jahr 2008 gezogen und welche Maßnahmen plant die Bundesregierung in dieser Legislatur um das dynamische Instrument „BEM“ kontinuierlich weiterzuentwickeln?
Antwort: Hans-Joachim Fuchtel, Parl. Staatssekretär bei der Bundesministerin für Arbeit und Soziales: Sie haben in dieser Frage ein Thema angesprochen, das uns sehr bewegt. Wir haben die Erkenntnis gewonnen, dass das betriebliche Eingliederungsmanagement in Großbetrieben – das Institut BEM habe ich ja schon angesprochen – sehr wohl bereits an der Tagesordnung ist. Wir mussten aber feststellen, dass in vielen kleinen und mittleren Betrieben noch erhebliche Aufklärungsarbeit notwendig ist. Wir sind gerade dabei, dieses zu tun. Eine Vielzahl von Modellprojekten befindet sich zurzeit mit allen möglichen Akteuren in Arbeit – nicht in Diskussionen, sondern bereits in Arbeit. So wurden zum Beispiel Regionalstellen errichtet, um kleine und mittlere Unternehmen in Fragen des betrieblichen Eingliederungsmanagements zu unterstützen. Ohne zu viel Werbung für das Berufsförderungswerk Bad Wildbad zu machen, darf ich darauf hinweisen, dass dieses Berufsförderungswerk ein Projekt gestartet hat, in dem es darum geht, wie man dies überbetrieblich organisieren kann. Dadurch könnte es dazu kommen, dass das BEM in Zukunft auch in den anderen 25 Berufsförderungswerken, die es gibt, eine noch größere Rolle spielt, als es sie ohnehin schon spielt. Außerdem gibt es das Projekt „GundA“. Hier kommt es zu einer Kooperation im Hinblick auf die Erfahrungen, die die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Beratungspraxis machen. Es wird versucht, weitere Mitarbeiter für diese Arbeit aufzubauen. Vor diesem Hintergrund möchte ich Ihnen zurufen: Bei diesem Thema können wir gemeinsam sicherlich sehr viel auf den Weg bringen. Das 27 Beste, das die Abgeordneten dieses Parlaments tun können, ist, in die Betriebe zu gehen und dort für dieses Instrument zu werben.