Warum das Vermittlungsverfahren zur Berechnung von verfassungsgemäßen Regelsätzen gescheitert ist

Gepostet am Mittwoch, den 9. Februar 2011 um 20:12 in Armut/ Grundsicherung,Grundsicherung/ Hartz IV,Regelsatz,WSK-Blog

Heute vor einem Jahr hat das Bundesverfassungsgericht die Berechnung der Regelsätze von Arbeitslosengeld II sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für verfassungswidrig erklärt. Auch die neuen Berechnungen von der Bundesregierung verstoßen höchstwahrscheinlich wieder gegen die Verfassung, da wichtige Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils nicht beachtet wurden. Ausführlich wird dies z.B. in der fachliche Stellungnahme „Menschenwürde, Teilhabe und die scheinbare Objektivität von Zahlen“ des Frankfurter Arbeitskreises Armutsforschung beschrieben (siehe http://archiv.strengmann-kuhn.de/2010/12/10/menschenwurde-teilhabe-und-die-scheinbare-objektivitat-von-zahlen/). Im Folgenden werden die wesentlichen Gründe erläutert. Da die Bundesregierung auf ihren nicht verfassungskonformen Berechnungen beharrt hat, ist das Vermittlungsverfahren gescheitert.

Bisher wurden die Regelsätze folgendermaßen berechnet. Datengrundlage ist und war die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes. Das ist eine repräsentative Erhebung, bei der Haushalte Angaben zu ihren Ausgaben, ihrem Einkommen und ihrem Vermögen machen. Diese wird alle 5 Jahre erhoben, zuletzt 2008. Die für verfassungswidrig erklärte Berechnung basierte auf Daten der EVS 2003. Grundlage der Berechnungen des Regelsatzes waren die Ausgaben von Einpersonenhaushalten. Von diesen Haushalten wurden zunächst diejenigen nicht berücksichtigt, die Sozialhilfe bezogen. Die übrigen Haushalte wurden nach dem Einkommen sortiert und dann die durchschnittlichen Ausgaben der 20% mit den geringsten Einkommen herangezogen. Die Bunderegierung hat dann bei diversen Ausgabenposten Abschläge mit der Begründung vorgenommen, dass diese nicht vollständig regelsatzrelevant wären. Die Regelsätze von Mehrpersonenhaushalten und Kindern wurden von dieser durchschnittlichen Ausgabensumme abgeleitet, indem bestimmte Prozentzahlen dieser Ausgaben unterstellt wurden.

Das Bundesverfassungsgericht hat dieses so genannte Statistikmodell, also die Berechnung der Regelsätze auf Basis der untersten 20% der Einkommensverteilung nach Herausrechnung der SozialhilfebezieherInnen als verfassungsgemäß bezeichnet, aber insbesondere folgende Punkte kritisiert:

    – Die bisherige Berechnung wurde als Verordnung, also von der Bundesregierung zusammen mit den Landesregierungen beschlossen. Dies müsse zukünftig in einem transparenten Entscheidungsverfahren vom Parlament geschehen und als Gesetz verabschiedet werden

    – Bei der Berechnung der Regelsätze müsse darauf geachtet werden, dass Zirkelschlüsse vermieden werden.
    – Die Abschläge, die bei den bisherigen Berechnungen vorgenommen wurden, müssen begründet sein, z.B. weil der entsprechende Ausgabenposten für Grundsicherungsbeziehende kostenlos ist, oder auf der Basis von empirischen Berechnungen stattfinden. Unter diesen Bedingungen räumt das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber (also dem Parlament) einen gewissen Ermessensspielraum ein. Das physische Existenzminimum sowie ein gewisses Maß an sozio-kultureller Teilhabe müsse aber gewährleistet sein.
    – Die Berechnung von Kinderregelsätzen als Prozentanteil des Regelsatzes für Erwachsene ist verfassungswidrig. Diese müssen durch separate Auswertungen ermittelt werden.

Zum Teil ist die Bundesregierung diesen Anforderungen nachgekommen, insbesondere wurden der Regelsatz der Kinder auf der Basis von Paaren mit einem Kind berechnet. Dabei wurden die Ausgaben auf der Basis von mehr oder weniger plausiblen Annahmen auf die drei Haushaltsmitglieder aufgeteilt. Das ist notwendig, da bei den meisten Ausgabenposten nicht erfasst ist und größtenteils auch nicht erfasst werden kann, wie sich die Ausgaben auf die Haushaltsmitglieder verteilen. Über die Annahmen könnte im Einzelnen diskutiert werden. Grundsätzlich ist dieser Ansatz aber methodisch in Ordnung.

Neben dem grundsätzlichen Einwand, dass nicht wie vom Verfassungsgericht gefordert, der Gesetzgeber, also das Parlament, sondern erneut die Regierung die Berechnungen durchgeführt hat bzw. vom Statistischen Bundesamt durchführen lassen, und notwendige Vergleichsrechnungen erst jetzt im Rahmen des für die Öffentlichkeit intransparenten Vermittlungsverfahren erfolgt sind, lassen sich die verfassungsrechtlich problematischen Punkte der neuen Berechnungen in drei Gruppen einteilen.

Erstens hat die Bundesregierung das Einkommen der Vergleichsgruppe systematisch kleingerechnet:

a) Bei den Alleinstehenden wurden nach Herausrechnung der Grundsicherungsbeziehenden nicht mehr wie früher und wie bei den Paaren mit einem Kind die untersten 20%, sondern nur 15% herangezogen, während zur Berechnung des Regelsatzes von Kindern, die untersten 20% betrachtet werden. Damit ändert die Bundesregierung grundlegend das bisherige Berechnungsverfahren, wobei auch die Begründung nicht überzeugend ist. Die Bundesregierung argumentiert damit, dass mehr Alleinstehende Grundsicherung beziehen als Paare mit einem Kind. Die Summe aus Grundsicherungsbeziehenden plus Referenzgruppe wäre dabei ungefähr (!) gleich groß. Unter anderem dadurch, dass diese nicht exakt gleich groß sind, ist offensichtlich, dass die Bundesregierung an dieser Stelle im Nachhinein manipuliert hat.

b) Die verdeckt Armen, also Menschen die Anspruch auf Grundsicherung haben, aber keine Grundsicherung beziehen, sind in der Referenzgruppe verblieben. Diese Gruppe wird vom Bundesverfassungsgericht explizit erwähnt und hat den Gesetzgeber verpflichtet, diese aus der Referenzgruppe herauszunehmen, damit nicht Haushalte mit einem Einkommen unterhalb des Grundsicherungsniveaus als Maßstab zur Berechnung der Regelsätze herangezogen werden.

c) Auch die Aufstocker, also GrundsicherungsbezieherInnen, die Erwerbseinkommen haben, sind in der Referenzgruppe enthalten. Ob die Herausnahme aller Aufstocker verfassungsrechtlich notwendig ist, ist dabei nicht ganz klar, weil Aufstocker ja ein Einkommen über dem Grundsicherungsniveau haben. Da mit Erwerbstätigkeit aber auch Kosten verbunden sind, müssen Aufstocker, die lediglich bis 100 € verdienen, herausgenommen werden, weil das verfügbare Einkommen nicht über dem Grundsicherungsniveau liegt. Da die Bundesregierung die Punkte b und c nicht berücksichtigt hat, kann es zu so genannten Zirkelschlüssen kommen, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts explizit ausgeschlossen werden müssen.

Zweitens hat die Bundesregierung eine Vielzahl von Ausgabenposten ohne empirische Grundlage oder mit der Begründung, dass sie kostenlos zur Verfügung gestellt werden, aus der Berechnung herausgenommen.
Dazu gehören die Ausgaben für Alkohol und Tabak, Zimmerpflanzen, Haustiere und vieles mehr. Wenn es sich dabei nur um kleine Ausgabenposten gehandelt hätte, wäre das verfassungsrechtlich im Rahmen des politischen Gestaltungsspielraums möglicherweise noch in Ordnung. Da es sich dabei um Ausgaben von über 70 € handelt, handelt es sich um eine methodisch und verfassungsmäßig unzulässige Vermischung von Warenkorb- und Statistikmodell. Wenn die durchschnittlichen Ausgaben Alkohol und Tabak oder Zimmerpflanzen herausgenommen werden, haben dadurch auch diejenigen einen geringeren Regelsatz, die gar keinen Tabak oder Alkohol konsumieren oder keine Zimmerpflanzen haben wollen.

Drittens gibt es einige weitere Punkte, die verfassungsrechtlich problematisch sind, u.a. werden die Regelsätze der Eltern von denen der Alleinstehenden abgeleitet, und dass dieses begründet wird und obwohl es auf Basis der bereits vorgenommen Berechnungen zur Ermittlung der Kinderregelsätze ohne weiteres möglich wäre, den Regelsatz der Eltern auf Basis der Ausgaben für Familien mit Kindern zu berechnen.

Darüber hinaus gibt es einige Berechnungen, die (wahrscheinlich) nicht verfassungswidrig, aber politisch hochproblematisch sind. Dazu gehört, dass Kosten für Speisen und Getränken in Gaststätten und Cafes nur in Höhe des Warenwertes. Statt der Kosten für ein Portion Pommes Frites tauchen also im Regelsatz nur die für die Kartoffeln und das Fett auf.

Ziel des Vermittlungsverfahrens war von Grüner Seite aus nicht, diese komplette Liste von Kritikpunkten durchzusetzen oder auch nur dafür zu sorgen, dass das Gesetz vollständig den Vorgaben des Verfassungsgerichts entspricht, sondern lediglich, wenigstens einige der verfassungsrechtlich problematischen Punkte zu korrigieren, um die Wahrscheinlichkeit einer Verfassungswidrigkeit zu verringern. Aber die Bundesregierung war nicht einmal bereit auch nur einen dieser Punkte zu korrigieren. Während wir uns also sehr weit bewegt hat, hat die Bundesregierung auf ihrer nicht verfassungskonformen Berechnung des Regelsatzes bestanden und damit eine Gesamtlösung blockiert.

2 Kommentare zu "Warum das Vermittlungsverfahren zur Berechnung von verfassungsgemäßen Regelsätzen gescheitert ist"

  1. am 10. Februar 2011 um 07:41

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  2. Sammy sagte,

    am 16. Februar 2011 um 01:21

    das die Grünen zusammen mit SPD/CDU/CSU/FDP bei dem (halb)-illegalen Ausschluß der LINKEN mitgemacht haben, sich also als zutiefst undemorkratisch gezeigt haben, wird den Grünen eine Menge Wählerstimmen kosten.

    Und die 5 EUR mit 11 EUR toppen zu wollen ist einfach nur lächerlich. Ich nehme an, das auch Teile der Grünen die Stellungnahme von Richter Rüdiger Boeker kennen !?!
    -> (BT Sozialausschuss Anhoerung Stellungnahme BT17(11)314 vom 18_November_2010)

    Aber da das globale kapitalistische System eh aus dem letzten Loch pfeift, ist das auch mittlerweile Wurscht.

    In absehbarer Zeit wird der in Nodafrika angestoßene Prozess der Revolution un des WIDERSTNADS gegen die Ausbeutung auch in Europa Einzug halten, Je eher, je besser.